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Selenskij hofft, von einer Verteidigung zur Offensive überzugehen


Wie der Präsident der Ukraine, Wladmir Selenskij, in einer Videobotschaft erklärte, bringe jeder Tag die ukrainischen Streitkräfte dem Erhalt einer technologischen und schlagkräftigen Überlegenheit über die russische Armee näher. In diesem Zusammenhang erwartet er Hoffnung machende Nachrichten von den westlichen Partnern. Laut Medienberichten könne man in Washington schon in der neuen Woche die Lieferung von Artilleriewaffen großer Reichweite an Kiew billigen, die in der Lage sind, Ziele auch auf dem russischen Territorium zu vernichten. Für solch eine Entscheidung plädieren auch jene europäischen Länder, die die USA gern aktiver im Ukraine-Konflikt sehen möchten.

Präsident Wladimir Selenskij bezeichnete die heutige Situation an der Frontlinie als eine „unbeschreiblich schwierige“. Dabei versicherte er aber in seiner am Sonntag veröffentlichten Videobotschaft, dass die ukrainische Verteidigung standhalten würde. Und die Streitkräfte der Ukraine würden mit jedem Tag jenem Moment nahekommen, zu dem sie eine technologische und schlagkräftige Überlegenheit über die russische Armee erhalten könnten. Gemeint sind die Waffenlieferungen der westlichen Partner. Von ihnen erwartet man in Kiew bereits in den nächsten Tagen gute Nachrichten.

Wie am Vorabend die Zeitung „The New York Times“ meldete, hätte die amerikanische Administration die Lieferungen reaktiver Raketenwerfer-Systeme mit einer großen Reichweite für die Ukraine gebilligt. Laut Informationen des Blattes sollte die entsprechende Entscheidung in dieser Woche bekanntgegeben werden. „Die Biden-Administration neigt dazu, MLRS-Systeme (Multiple Launch Rocket Systems) im Rahmen eines erweiterten Pakets für die militärische Sicherheit der Ukraine bereitzustellen“, stimmte man bei CNN zu. Dort räumte man gleichfalls ein, dass die amerikanische Administration dies schon in den nächsten Tagen bekanntgeben könne.

In der letzten Zeit schreiben Kiewer Medien viel über erwartete Lieferungen von weitreichenden Artilleriewaffen des Typs MLRS und möglicherweise HIMARS aus den USA. Diese Raketenwerfer-Systeme, zu denen es bei den ukrainischen Militärs nichts Analoges gibt, würden ihnen erlauben, den Verlauf der Kampfhandlungen zu ihren Gunsten zu ändern, behaupten Analytiker in Kiew. Wie unter anderem der ukrainische Militärexperte Sergej Grabskij erinnerte, seien die erwähnten Systeme in Abhängigkeit vom Typ der Geschosse in der Lage, ein Ziel in einer Entfernung von sowohl 30 als auch 300 Kilometer zu treffen, und erlaube daher, kombiniert Schläge sowohl gegen die taktische Zone des Gegners als auch gegen Ziele in der Tiefe dessen Territoriums zu führen.

Es sei daran erinnert, dass US-Präsident Joe Biden am 21. Mai dieses Jahres ein Gesetz über die Gewährung militärischer und humanitärer Hilfe für die Ukraine im Umfang von 40 Milliarden Dollar unterzeichnete. Wie der offizielle Pentagon-Sprecher John Kirby dieser Tage erklärte, hätte man in Washington bisher keine endgültige Entscheidung bezüglich der Lieferungen von MLRS an Kiew getroffen. Russische Medien meldeten jedoch bereits in der zweiten Tageshälfte des 30. Mai, dass Biden erklärt habe, dass die USA keine derartigen Systeme an die Ukraine liefern werde. Unter Berufung auf Reuters erklärten sie, dass der amerikanische Präsident nicht wolle, dass dank solcher Waffen russisches Territorium durch die Ukraine beschossen werde.

Wie gegenüber der „NG“ Iwan Safrantschuk, Direktor des Zentrums für eurasische Studien der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO beim russischen Außenministerium, anmerkte, würden die Ukraine und Polen mit aktiver Unterstützung von Großbritannien auf eine Eskalierung des Konfliktes setzen. Sie würden versuchen, eine Situation zu schaffen, unter deren Bedingungen die NATO und Russland in einem direkten Konflikt aufeinandertreffen würden. Wie dort angenommen werde, „fürchtet“ Russland eine unmittelbare Auseinandersetzung und werde zurückweichen. Daher würde man alle übrigen – nach der Chefin des britischen Außenministeriums Liz Truss – aufrufen, „aufs Gaspedal zu treten“. So ist die abenteuerliche Politik einer Einschüchterung Russlands. Obgleich tatsächlich alle ausgezeichnet begreifen, dass sie nicht funktioniert. Aber man möchte die USA in einen realen Krieg mit Russland hineinziehen“, konstatierte der Analytiker.

Wie dieser Tage die italienische Zeitung „Corriere Della Sera“ berichtete, habe Großbritanniens Premierminister Boris Johnson dem ukrainischen Staatsoberhaupt Wladimir Selenskij vorgeschlagen, ein Militärbündnis gegen Russland zu schaffen. Dieses Bündnis sei dazu berufen, zu einer Alternative zur Europäischen Union zu werden und die Länder zu vereinigen, die mit der Politik Brüssels, aber auch den Handlungen Berlins in Bezug auf Moskau unzufrieden seien. Außer Großbritannien, das bereit ist, die neue Vereinigung anzuführen, könnten ihr neben der Ukraine die baltischen Staaten beitreten, aber auch Polen und in der Perspektive eventuell die Türkei. Erstmals hatte Johnson seine Initiative während eines Kiew-Besuches am 9. April formuliert. Bisher hat die ukrainische Seite sie zurückhaltend aufgenommen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sich diese Haltung nach dem Juni-Gipfel der Europäischen Union ändern wird, der eine Entscheidung über die Gewährung eines Kandidatenstatus für die Ukraine hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft treffen soll. Ein derartiger Schritt könne beispielsweise Proteste Albaniens und Nordmazedoniens auslösen, die seit Jahren auf einen analogen Kandidatenstatus warten, präzisierte man auf den Seiten des Blattes „Corriere Della Sera“.

Wie dem auch sei, hier zeichnet sich aber eine interessante Kollision ab. Bisher hätten die Vereinigten Staaten gewöhnlich auf eine aktivere Beteiligung der europäischen Länder am Militärkonflikt in der Ukraine bestanden, um mit ihren Kräften die erklärte Schwächung oder Niederlage Russlands zu erreichen. Nun ergebe sich aber, dass man auch in einer Reihe von Hauptstädten Europas bestrebt ist, das gleiche mit Washington zu tun, betonte Iwan Safrantschuk.

Zum heutigen Zeitpunkt seien die Amerikaner darüber unzufrieden, wie der Konflikt verläuft. Ihre Erwartungen würden keine praktische Bestätigung finden. Und in Washington bereite man sich schon einige Wochen lang auf das nächste Stadium vor. Dort sondiere man verschiedene Varianten. Aber man finde bisher nichts Gutes für sich. Unter derartigen Bedingungen sei die amerikanische Führung imstande, sich zu einer ernsthaften Eskalierung zu entschließen, wobei man in der nächsten Runde damit rechne, neue Varianten für die Handlungen zu finden. Dabei sei sie sich gewiss, dass sie insgesamt ihre Verbündeten und die Grenzen der Eskalation kontrolliere, erläuterte der Vertreter aus der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO.

Wie Russlands Botschafter in den USA, Anatolij Antonow (im Übrigen früher auch Russlands Vizeverteidigungsminister – Anmerkung der Redaktion), der die Situation rund um die Lieferung der genannten Waffensysteme kommentierte, hervorhob, ergebe sich in solch einem Fall das Risiko, dass sie unweit der Grenze stationiert werden würden und sich für die ukrainischen Militärs die Möglichkeit ergeben würde, Schläge gegen russische Städte zu führen. „Eine derartige Situation ist für uns inakzeptabel und unzulässig. Ich bin sicher, dass unsere Streitkräfte die erforderlichen Schritte für ein Abnullen der Möglichkeiten der ukrainischen Streitkräfte unternehmen werden“, merkte der russische Diplomat an. Er fügte hinzu, dass für eine baldige Beendigung des Konflikts zu Moskauer Bedingungen Washington und Kiew die Realität anerkennen müssten (wonach Kremlchef Putin die Ukraine gefügig machen und vollkommen nach seinen Vorstellungen sowie in neuen Grenzen umkrempeln will – Anmerkung der Redaktion). Dies würde erlauben, auf dem Weg einer politischen Regelung voranzukommen und keine Verschlechterung der Situation im Bereich der internationalen Stabilität zuzulassen.

Der Berater des Chefs des Office des ukrainischen Präsidenten und Delegationsmitglied bei den Verhandlungen mit der Russischen Föderation, Michail Podoljak, erklärte am Vorabend erneut auf seinem Telegram-Kanal das Erreichen irgendwelcher Kompromisslösungen bei den Verhandlungen mit der russischen Seite für unmöglich. „Die Ukraine wird gegen Russland bis zum siegreichen Finale kämpfen. Wir haben keine anderen Varianten. Und wenn der Westen erneut erzittert, erneut seine tiefliegende Angst vor der russischen monströsen Welt zur Schau stellt, werden Europa und die Welt insgesamt eine neue blutige Neuziehung von Grenzen, Chaos, Flüchtlingswellen, Hunger und neue Sicherheitsregeln erwarten“, fuhr Podoljak fort.

In einem weiteren Post warnte er davor, dass „die Russen in eine Hysterie verfallen sind“, als sie erfuhren, dass die Ukraine MLRS mit einer Reichweite von mehr als einhundert Kilometern erhalten würde. Was die Effizienz des Schrittes hinsichtlich einer Bereitstellung solch einer „Vergeltungswaffe“ für Kiew bestätige, resümierte Podoljak.

Die erklärten Maßnahmen könnten jedoch zu einer großangelegten Zunahme einer militärischen Eskalation führen. Der Vizepräsident des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten, Generalleutnant der Reserve Jewgenij Buschinskij, erläuterte der „NG“, dass die diskutierte Wende möglich sei. In diesem Falle würde der Generalstab der Streitkräfte Russlands die erforderlichen Entscheidungen treffen, sagte Buschinskij.