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Selenskij ist ein Schritt bis zur Gestaltung einer Machtvertikale geblieben


Für den 3. Juni ist ein Kongress der neuen ukrainischen „Partei der Bürgermeister“ geplant, die zu einem Konkurrenten für die Regierungspartei von Wladimir Selenskij werden kann. Die nächsten Wahlen in der Ukraine sollen am letzten Oktobersonntag stattfinden. Gewählt werden örtliche Räte und die Leiter (Bürgermeister) aller Ortschaften. Von den Ergebnissen hängt ab, wird die Partei „Diener des Volkes“ die im vergangenen Jahr begonnene Gestaltung ihrer Machtvertikale vollenden. 

Die neue Partei „ProPositsia“ war Mitte Juni durch die Bürgermeister Boris Filatow von Dnipro (bis 2016 die Stadt Dnipropetrowsk – Anmerkung der Redaktion), Alexander Senkjewitsch von Nikolajew, Sergej Suchomlin von Schitomir, Andrej Raikowitsch von Kropywnyzkyj (das frühere Kirowograd), Andrej Djatschenko von Kachowka und Alexej Kaspruk von Tschernowzy präsentiert worden. 

Der Name wird ins Deutsche als „Vorschlag“ übersetzt. Die Führungskräfte der Organisation bestehen jedoch auf eine zweifache Lesart des Namens – sowohl als Vorschlag, Idee und Initiative der örtlichen Machtorgane als auch Erklärung zur Position der örtlichen Selbstverwaltung.  

Sowohl die Räte, angefangen von denen in den Dörfern und Städten bis hin zu den Verwaltungsgebieten, als auch die Führungskräfte der Ortschaften sind über die Prozesse besorgt, die ihren Worten nach unter dem Aushängeschild einer Dezentralisierung der Macht erlauben würden, den Einfluss des Zentrums zu verstärken. In einem Interview für das Internetportal „Linkes Ufer“ (www.lb.ua) sagte der Bürgermeister von Kropywnyzkyj, A. Raikowitsch: „…die Dezentralisierung, die man uns vorgeschlagen hat, ist eine der administrativen Ebene. Sie ist nicht zu solch einer geworden, von der wir geträumt hatten, und nicht zu solch einer, wie sie uns die Theoretiker vorgestellt hatten. Die finanzielle Dezentralisierung gab uns die Möglichkeit, mehr oder weniger Ordnung zu schaffen… hinsichtlich aller Richtungen: in der Medizin, im Bildungswesen, in der Kultur und im Straßenbau. Wir haben aber bestätigte Befürchtungen, dass diese Sachen wieder in die Zone der Zentralisierung gelangen werden. Man nimmt uns unter jeglichem Vorwand die Finanzierung weg“.

Nikolajews Bürgermeister charakterisierte dem gleichen Medium anschaulich die Situation: „…Das Hauptproblem ist: Nachdem ein Drache getötet wurde, wird man selbst nicht zu einem Drachen. Bei uns hat sich heute solch eine Situation ergeben, dass ein Drache gestürzt wurde. Und es ist ein neuer Drache aufgetaucht. Und der versucht, überall seine kleinen Drachen zu postieren und einzusetzen… Die Aufgabe der Herrschenden ist heute, nicht irgendein Ergebnis, irgendein Ziel zu erreichen. Die Aufgabe ist, bei den Wahlen (zu den örtlichen Machtorganen – Anmerkung der „NG“) zu siegen und ihre Mehrheit (in jeder Region – Anmerkung der „NG“) zu schaffen. Kann aber eine Mehrheit ein Ziel sein? Nein. Sie kann lediglich ein Mittel für das Erreichen irgendwelcher Ziele sein“.

Die Offiziellen auf der Ebene der Regionen sind bereit, ihre Vorschläge zur Entwicklung des Landes einzubringen. Doch deren Zusammensetzung, die sich entsprechend den Ergebnissen der Wahlen von 2015 ergeben hat, hat möglicherweise keine solche Möglichkeit. In der Werchowna Rada (das ukrainische Parlament – Anmerkung der Redaktion), in der seit Juli vergangenen Jahres die Vertreter der Partei „Diener des Volkes“ die Mehrheit bilden, hat man jetzt die Behandlung neuer Regeln für die Kommunalwahlen begonnen. Die Abgeordneten reden von verschiedenen Neuerungen inkl. der Einführung einer Sperrklausel und der obligatorischen Nominierung der Kandidaten nur von Parteien (so dass selbständige bzw. unabhängige Kandidaten dann wohl nur in Dörfern und Siedlungen antreten können), aber auch der Forderung an die Parteien, in mehr als der Hälfte der Wahlbezirke Kandidaten aufzustellen. All dies, aber auch die Fragen der Finanzierung der Kommunalwahlen lösen eine Vielzahl brisanter politischer Streitigkeiten aus. Im politischen Umfeld kommen die Befürchtungen auf, dass die regierende Partei versucht, Bedingungen zu schaffen, die die Konkurrenz einschränken. 

Dnipros Bürgermeister Boris Filatow sagte, dass er persönlich mit der Führung der Partei und der Fraktion „Diener des Volkes“ gesprochen habe, um zu klären, weshalb umstrittene gesetzgeberische Novitäten auf die Tagesordnung gesetzt werden: „Man kann sich doch an einen Tisch setzen und normal mit der örtlichen Selbstverwaltung sprechen? Dafür bilden wir auch die Partei, um den weltanschaulichen Konflikt zu erklären. Dieser Konflikt hat buchstäblich unsere Partei aus der Taufe gehoben. Sie haben uns selbst hervorgebracht!“. Dabei betont Filatow, dass die Partei „ProPositsia“ keine Opposition der Regionen zur Zentralgewalt sei. Sie solle Kiew die Position der Region vorstellen: „Wir sind der Auffassung, dass unsere Partei in erster Linie die Interessen der Menschen repräsentiert… Die Politik wird in den Höfen gemacht. Und dort ist besser zu sehen, wie die Menschen leben“.

Die Initiatoren von „ProPositsia“ erklären, dass gerade die örtlichen Machtorgane das Bindeglied zwischen den Bürgern und der Zentralgewalt seien. Wie das Programm und die Ideologie der neuen Partei aussehen werden, wird am 3. Juli bekannt. Nach dem Kongress werden, wie erwartet wird, der „Partei der Bürgermeister“ andere einflussreiche Vertreter der Kommunen beitreten. Dabei haben viele Bürgermeister nicht vor, ihre bisherigen politischen Projekte aufzugeben. Vitalij Klitschko beispielsweise, der 2014 einem Bündnis seiner Partei UDAR mit dem „Block von Petro Poroschenko“ zugestimmt hatte (und verzichtete, für das Präsidentenamt zu kandidieren, wobei er Petro Poroschenko unterstützte), verteidigt nun die Eigenständigkeit seiner Partei. Bemerkenswert ist, dass er den Vorschlag der Poroschenko-Partei „Europäische Solidarität“, erneut für das Amt des Kiewer Bürgermeisters als Vertreter dieser politischen Kraft zu kandidieren, nicht angenommen hat. 

Einige Bürgermeister gehören seit dem vergangenen Jahr der Partei von Ex-Premier Wladimir Groisman an. Noch eine Gruppe – der Partei „Vertraue den Angelegenheiten“. Daher ist „ProPositsia“ bei weitem nicht die erste Partei, die man in den Medien als „Partei der Bürgermeister“ bezeichnet. Man vergleicht sie aber in erster Linie mit dem Projekt „Nasch Krai“ („Unsere Region“), das 2014 aus der Taufe gehoben wurde und entsprechend den Ergebnissen der Kommunalwahlen von 2015 den dritten Platz belegte. Die Spitzenkräfte von „ProPositsia“ empört solch ein Vergleich, da früher die Auffassung vertreten wurde, dass die Bildung der Partei „Nasch Krai“ die Administration von Präsident Poroschenko beeinflusst hätte. Als Antwort auf eine entsprechende Frage des Internetportals „Rubrika“ (www.rubryka.com) sagte Boris Filatow, dass es keinen Sinn mache, „ProPositsia“ mit „Nasch Krai“ zu vergleichen. „Wodurch unterscheiden wir uns? Durch alles… Sie wissen, wie die Partei „Nasch Krai“ gebildet und aufgebaut wurde, nicht von unten her, sondern von der Administration des Präsidenten… Wir wollen eine richtige Partei aufbauen… Da erfolgt alles von unten her“.  Der Politologe und Leiter des Zentrums für militärrechtlichen Untersuchungen, Alexander Musijenko, sagte gegenüber der Internetzeitung „Slovo i delo“ („Wort und Tat“, www.slovoidilo.ua), dass man die für den 25. Oktober geplanten Kommunalwahlen in dem Falle canceln könne, wenn in der Ukraine der Kriegs- oder Ausnahmezustand verhängt werde. Für den kommenden Herbst prognostizieren Epidemiologen die zweite Welle der Coronavirus-Epidemie, was theoretisch zur Verhängung eines Sonderregimes führen kann. „Doch unter Berücksichtigung dessen, dass im Frühjahr kein solches Regime verhängt wurde, ergeben sich sofort die Fragen: Wozu dies im Herbst tun? In solch einem Fall wird man beginnen, den Offiziellen politische Motive vorzuwerfen“, erklärte Musijenko.