Der Juni kann in der politischen Situation der Ukraine zu einem Wende-Monat werden. Bisher basierte das ganze System auf der persönlichen Popularität von Präsident Wladimir Selenskij. Jetzt haben Soziologen erstmals eine negative Balance von Vertrauen/Misstrauen gegenüber dem Präsidenten fixiert. Beinahe ein Drittel der Bevölkerung ist nicht gegen die Abhaltung vorgezogener Wahlen.
Das Zentrum „Soziales Monitoring“ hatte Anfang Juni eine umfangreiche Befragung durchgeführt. Die Antworten der Befragten (über 3.000 Personen, die alle Regionen und alle Bevölkerungsgruppen des Landes repräsentieren) erlaubten, die Atmosphäre im Land zu beurteilen. „Radikalisierung der Stimmungen vor dem Hintergrund einer Wirtschafts- und einer politischen Krise“ – so titelten die Autoren den Bericht über die Umfrageergebnisse.
Zu einem relevanten Parameter, auf den die ukrainischen Experten die Aufmerksamkeit lenken, wurde der Grad des Vertrauens/Misstrauens gegenüber dem Staatsoberhaupt. Im Verlauf des ersten Jahres der Präsidentschaft genoss Wladimir Selenskij ungeachtet der Skandale in seiner Umgebung und der unpopulären Entscheidungen der Behörden das Vertrauen von mehr als der Hälfte der Bevölkerung. Vollkommen vertrauen heute 13 Prozent dem Präsidenten. 28,3 Prozent vertrauen in dem einen oder anderen Maße. 25,4 Prozent vertrauen eher nicht. Ganz und gar nicht vertrauen 24,8 Prozent. Nach einem Vergleich der Werte gelangten die Soziologen zu dem Schluss, dass die Balance von Vertrauen/Misstrauen gegenüber Selenskij erstmals ein negatives Vorzeichen hat – minus 8,9 Prozent. Im Mai 2019 (in der Zeit der Amtseinführung) vertrauten um 34,1 Prozent mehr Menschen Selenskij als diejenigen, die ihm kein Vertrauen entgegenbrachten. Zum November 2019 verbesserte sich die Balance sogar bis auf plus 35,6 Prozent. Bereits im Januar aber rutschte der Wert bis auf plus 10,1 Prozent ab, und zum Sommerbeginn passierte er die Null-Marke.
Der Politologe Alexej Golobuzkij, den die Nachrichtenagentur UNIAN zitiert, ist der Auffassung, dass im Juni der „Rubikon überschritten worden ist. Über die Hälfte der Wähler vertraut nicht dem Präsidenten. Jeder zweite erwartet von Selenskij schon nichts Gutes“. Nach Meinung des Experten sei die Situation zu einer Folge des Misstrauens der Ukrainer gegenüber den Antikorruptionsinstitutionen und dem Rechtsschutzsystem geworden. „Die Korruption kehrte … in die Topliste der Probleme zurück. Und Selenskij hat weder Pläne noch eine generelle Vorstellung darüber, was mit ihr zu tun ist…“
Die Umfrage von „Soziales Monitoring“ zeigte, dass die Anstrengungen der Offiziellen und Behörden, die auf eine Korruptionsbekämpfung in den höchsten Machtstrukturen abzielen, 47,7 Prozent sehr negativ und 35 Prozent negativ bewerten (11 Prozent bewerten sie relativ positiv, 1,3 Prozent – positiv). Außerdem beurteilen 47,6 Prozent die Aktionen der Offiziellen, um Vertreter der früheren Staatsführung zur Verantwortung zu ziehen, äußerst negativ. Weitere 34,2 Prozent – negativ. Erfolge auf diesem Gebiet sehen 10,7 Prozent.
Der Regierung vertrauen vollkommen nicht 32,3 Prozent, teilweise – 44,6 Prozent (teilweise vertrauen ihr 18,5 Prozent, vollkommen – 1,1 Prozent). Die Balance von Vertrauen/Misstrauen machte minus 54,3 Prozent aus. Der Werkhownaja Rada (dem Landesparlament) vertrauen 36,1 bzw. 38,7 Prozent nicht. Vertrauen schenken ihr 18,3 bzw. 1,1 Prozent (Balance: minus 55,4 Prozent). Um 44,6 Prozent höher liegt die Zahl derjenigen, die der Nationalbank der Ukraine nicht vertrauen – im Vergleich zur Zahl derjenigen, die ihr vertrauen. Die Balance von Vertrauen/Misstrauen lag bei minus 34,1 Prozent in Bezug auf den Sicherheitsdienst der Ukraine, bei minus 42,8 Prozent für die nationale Polizei, bei minus 64 Prozent hinsichtlich der Organe der Staatsanwaltschaft, bei minus 58 % bezüglich das Staatlichen Untersuchungsbüros und bei minus 62,8 Prozent in Bezug auf das Nationale Antikorruptionsbüro. Bemerkenswert ist, dass die Bürger den Streitkräften des Landes mehr vertrauen – plus 32,4 Prozent. Das Vertrauen der Gesellschaft genießen gleichfalls die Veteranen der sogenannten antiterroristischen Operation im Osten des Landes, Freiwillige und Ärzte.
Der Krieg im Donbass wurde augenscheinlich zu einer der Ursachen für die sich veränderte Haltung zur ukrainischen Führung. 42,1 Prozent bewerteten die Handlungen des Selenskij-Teams in dieser Fragesehr negativ, 38,6 Prozent negativ (relativ positiv – 13,8 Prozent, insgesamt positiv – 0,9 Prozent). Die Soziologen ermittelten, wie die Ukrainer eine Lösung für das Donbass-Problem sehen. Einen Sonderstatus in Form einer Autonomie für die nichtkontrollierten Gebiete innerhalb der Ukraine sind 29,4 Prozent bereit zu gewähren (12,2 Prozent in den westukrainischen Verwaltungsgebieten, 26,9 Prozent im Zentrum, 44,1 Prozent im Osten, 33,1 Prozent im von der Ukraine kontrollierten Teil des Donbass und 43 Prozent in den südukrainischen Verwaltungsgebieten). Für ein offizielles Anerkennen dessen, dass es unmöglich ist, in der nächsten Zeit die nichtkontrollierten Territorien in den Bestand der Ukraine zurückzuholen, und für eine weitere Isolierung der Region treten 27,4 Prozent ein (30,2 Prozent in den westukrainischen Verwaltungsgebieten, 27,6 Prozent im Zentrum, 22,1 Prozent im Osten, 37,4 Prozent im von der Ukraine kontrollierten Teil des Donbass und 27 Prozent in den südukrainischen Verwaltungsgebieten). Eine Fortsetzung der Kampfhandlungen, die auf die Wiederherstellung der Kontrolle der Ukraine über das gesamte Territorium des Donbass abzielen, unterstützen 19,6 Prozent (30,4 Prozent in den westukrainischen Verwaltungsgebieten, 22,5 Prozent im Zentrum, 14 Prozent im Osten, 6,5 Prozent im von der Ukraine kontrollierten Teil des Donbass und 8,2 Prozent in den südukrainischen Verwaltungsgebieten).
Als Antwort auf die direkte Frage danach, ob die Befragten eine Entscheidung über die Gewährung einer Autonomie für den Donbass im Bestand der Ukraine im Interesse der Beendigung der Kampfhandlungen und einer Friedensregelung unterstützen würden, sagten 44,6 Prozent „Ja“ (18,9 Prozent unterstützen dies vollkommen, 25,7 Prozent mit Einschränkungen, 19,2 Prozent unterstützen dies nicht, 18,1 Prozent sind kategorisch dagegen, und 18,1 Prozent konnten keine Antwort geben).
Dabei bleibt das Donbass-Problem auf der Liste der erstrangigen Probleme des Landes. Den Befragten wurde vorgeschlagen, eine von den Soziologen vorgeschlagene Auflistung nach einem 5-Punkte-System zu bewerten. Die Antworten verteilten sich so: Lösung des Konflikts im Osten (4,59), der Niedergang der Wirtschaft (4,59), der Preisanstieg und die Inflation (4,58), das Ansteigen der Tarife (4,52), Arbeitslosigkeit (4,47), die Bereicherung der Oligarchen und Verarmung der Bevölkerung (4,3), die Höhe der Steuern und Gebühren (4,23), soziale Ungerechtigkeit (4,23), Verschleiß der Infrastruktur des kommunalen und Wohnungssektors (4,2), Ökologie (4,16), Qualität und Tempo der Reformen (4,11), Abhängigkeit des Staates von einer äußeren Verwaltung (4,02) und Emigration der Bevölkerung, massenhafte Arbeitsmigration ins Ausland (3,89). Die Beziehungen mit Russland als Hauptproblem des Staates erhielten die Wertung 3,75 und die Rückkehr der Krim zur Ukraine – 3,55.
Der politische Experte Jurij Butussow kommentierte diese Untersuchungen und lenkte das Augenmerk darauf, dass derzeit eine positive Balance des Vertrauens der Gesellschaft nur gegenüber den Streitkräften der Ukraine gewahrt bleibe. Ein „Beenden des Krieges“ bedeute für die Mehrheit der Ukrainer „den Krieg nicht zu verlieren“. Gerade deshalb würden sie nach wie vor der Armee vor dem Hintergrund des Rückgangs des Ratings des Präsidenten und seiner Außenpolitikratings vertrauen. Er hält die Idee „ohne äußere Sicherheit und den Schutz vor Russland die Reformen durchführen und die Wirtschaft zu entwickeln“ für eine gescheiterte. Und daher, so Butussow in seinem Blog, „muss die politische Strategie mit einem Sich-stützen nicht auf pazifistische Stimmungen, sondern auf die Armee und den Schutz des Landes gestaltet werden. Der Präsident muss sich auf die Armee und nicht auf seine bekannten Schmuggler und Oligarchen stützen“.
Doch den Umfrageergebnissen nach zu urteilen, haben die Offiziellen bereits wenig Zeit für Überlegungen. Während im Dezember 2019 54,7 Prozent das Team von Selenskij unterstützten, so erklärten im Juni 69,9 Prozent, dass sich das Land in einer falschen Richtung entwickeln würde (30,1 Prozent – in einer richtigen Richtung). Gegenwärtig bezeichneten nur 1,3 Prozent die politische Situation im Land als eine, die in Ordnung sei. 24 Prozent – als eine ruhige. Aber 55,8 Prozent halten sie für eine angespannte, und 14,1 Prozent — für eine explosionsgefährliche. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen würden 26,9 Prozent unterstützen (vor einem halben Jahr waren es 16,8 Prozent). Nicht unterstützen würden diese 27,6 Prozent, während sich 13,1 Prozent nicht festlegen wollten.