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Selenskij überraschte Moskau und den Vatikan


Der Vorschlag von Wladimir Selenskij hinsichtlich eines Treffens mit Wladimir Putin im Vatikan hat sowohl Moskau als auch den Heiligen Stuhl überrascht. In Kiew zweifeln aber viele, dass die durch den ukrainischen Präsidenten initiierte Begegnung überhaupt stattfinden wird. Den laut gewordenen Erklärungen nach zu urteilen haben die Seiten unterschiedliche Vorstellungen über den Inhalt des Gesprächs des ukrainischen und des russischen Staatsoberhauptes.

Die Idee von einem Treffen im Vatikan war durch Selenskij in einem Interview für die italienische Zeitung „La Repubblica“ formuliert worden. Im Grunde genommen hatte der ukrainische Präsident einfach den Worten des Journalisten zugestimmt, der nach der Möglichkeit solch eines Verhandlungsortes gefragt hatte. „Ja, dies könnte möglicherweise ein optimaler Ort aus jeglicher Sicht sein. Der Vatikan ist wirklich ein idealer Ort für einen Friedensdialog“, antwortete er. Anfang Februar vergangenen Jahres hatte Selenskij dem Vatikan einen offiziellen Besuch abgestattet und war durch den Römischen Papst empfangen worden.

Jetzt bekundete Selenskij in dem Interview für das italienische Blatt die Zuversicht, dass ein Treffen mit Putin „unbedingt stattfinden wird. Es ist nötig, um den Krieg im Donbass zu beenden und den ganzen Weg zu einem ehrlichen und stabilen Frieden zurückzulegen“. Er betonte, dass sich die Präsidenten der Ukraine und der Russischen Föderation lange nicht persönlich getroffen hätten. „Dies fördert zweifellos keine konstruktiven Verhandlungen. Daher scheint mir, dass das Treffen auf einem Territorium erfolgen sollte, dass Frieden und einen Dialog verkörpert. Meines Erachtens fördert ein richtig ausgewählter Ort für die Durchführung des außerordentlich schwierigen Friedensdialoges die Lösung der Frage“.

Bekanntlich hatte Wladimir Putin als Antwort auf den von Wladimir Selenskij in einem Videoauftritt vom 20. April formulierten Vorschlag hinsichtlich eines Treffens das ukrainische Staatsoberhaupt zu jeglicher Zeit nach Moskau eingeladen. Dabei hatte er aber unterstrichen, dass Gegenstand der Gespräche die bilateralen Beziehungen sein könnten, zu denen die russische Seite den Krieg im Donbass nicht rechnet. Bezüglich einer Konfliktregelung müssten die ukrainischen Offiziellen, wie der Präsident der Russischen Föderation unterstrich, direkte Gespräche mit Donezk und Lugansk führen.

Selenskij sagte dieser Tage gegenüber ukrainischen Journalisten, dass er nicht mit „Terroristen“ reden werde, womit die Spitzenvertreter der nichtanerkannten Donezker Volksrepublik und der Lugansker Volksrepublik gemeint waren. Nicht akzeptiert in Kiew hat man auch den Vorschlag hinsichtlich eines Moskau-Besuchs. Alexej Resnikow, Vizepremier in der ukrainischen Regierung und stellvertretender Leiter der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen, sagte in der TV-Sendung „Redefreiheit von Sawik Schuster“: „Während des Krieges kann der Präsident nicht in die Hauptstadt (Moskau – „NG“) fahren und sich mit einem Menschen treffen, der ein Vertreter eines Aggressor-Staates ist. Mir scheint, dass dies ein etwas merkwürdiger Vorschlag ist“. In einem Interview der „Financial Times“, das Anfang der Woche veröffentlicht wurde, hatte Selenskij selbst unterstrichen, dass der Ort und der Zeitpunkt für ein Treffen zweitrangige Bedeutung hätten. Wichtig sei der Inhalt des Gesprächs mit Wladimir Putin.

Der Führer der Partei „Europäische Solidarität“ Petro Poroschenko veröffentlichte eine Erklärung, in der er erneut die roten Linien aufzählte, die der Präsident der Ukraine nicht berechtigt sei, im Verlauf eines Treffens mit dem russischen Staatschef zu übertreten. Erstens dürfe nach Aussagen Poroschenkos der in der Verfassung der Ukraine verankerte strategische außenpolitische Kurs auf eine Mitgliedschaft in der EU und NATO revidiert werden. Zweitens, „die Unzulässigkeit irgendwelcher Zugeständnisse in der Frage der nationalen Identität, und zwar der ukrainischen Sprache und der ukrainischen Kirche“. Die dritte Forderung sei nach seinen Worten die Abhaltung von Kommunalwahlen in den von Kiew nichtkontrollierten Gebieten des Donbass nur nach einer „vollwertigen und klaren sowie allumfassenden Garantierung der Sicherheit, nach der De-Okkupation und Wiederherstellung der Kontrolle über die Grenze“. Außerdem erklärte Selenskijs Vorgänger die Unzulässigkeit von Zugeständnissen in den Fragen der Zugehörigkeit der Krim (in der Ukraine ist die Halbinsel offiziell „als zeitweilig okkupiertes Territorium der Ukraine“ anerkannt worden). Und schließlich die Notwendigkeit, die internationalen Gerichtsprozesse fortzusetzen, deren Ziel sei, Russland zur Verantwortung zu ziehen.

Weder Selenskij selbst noch die Mitglieder seines Teams haben nie publik etwas dazu gesagt, was erlauben würde, die Möglichkeit eines Übertretens jener roten Linien zu vermuten, von denen Poroschenko sprach. Mehr noch, das andere Lager der Opposition in Gestalt der Partei „Oppositionsplattform – Für das Leben“ wirft Selenskij ein Anstacheln der Nationalisten und eine Fortsetzung der Politik Poroschenkos vor. „Unsere Position hat sich nicht verändert: Gespräche müssen mit allen Beteiligten dieses Konfliktes erfolgen, einschließlich von Vertretern der zeitweilig nichtkontrollierten Territorien, da sie gleichfalls Unterzeichnen der Minsker Abkommen sind. Wir haben den politischen Willen, dies zu tun. Wenn die Offiziellen dies nicht tun wollen, so sind wir zu diesen Verhandlungen im Interesse von Frieden und einer Wiederherstellung der territorialen Integrität unseres Staates bereit“, erklärte dieser Tage Jurij Boiko, einer der Führer dieser Partei.

„Oppositionsplattform – Für das Leben“ übte scharfe Kritik an der Position Selenskijs, die in dem Interview der „Financial Times“ dargelegt worden war. Der ukrainische Präsident hatte sich dahingehend geäußert, dass man auf zwei Wegen aus der sackgassenartigen Situation bei der Konfliktregelung herauskommen könne: „Wir können das Minsker Format ändern, es korrigieren. Oder wir können irgendein anderes Format nutzen“. Die ukrainischen Offiziellen sprechen schon lange von der Möglichkeit einer Erweiterung der Verhandlungsformate, aber auch von der Notwendigkeit einer schrittweisen Erfüllung der Minsker Abkommen: zuerst alles, was mit der Gewährleistung der Sicherheit zusammenhängt, danach alle politischen Punkte.

Es macht Sinn, diese Fragen mit der russischen Führung zu erörtern. Ohne deren Beteiligung kann nicht eine Entscheidung getroffen und realisiert werden. Selenskij stellte im Interview der „La Repubblica“ selbst eine Reihe von Fragen zu einem Treffen mit Putin: „Wie muss die Tagesordnung bei diesen Gesprächen aussehen? Welche Schritte werden uns zu Frieden führen? Wo und wann werden diese Schritte abgestimmt? Dies sind offene Fragen. Und wir werden meines Erachtens die Antworten auf sie erhalten, gleich nachdem direkte Konsultationen zwischen dem Office des Präsidenten der Ukraine und der Administration des Präsidenten Russlands beginnen“.

Der Leiter des Office des ukrainischen Präsidenten Andrej Jermak, den Selenskij beauftragte, Konsultationen zu organisieren, sagte dieser Tage gegenüber Journalisten, dass bisher weder ein Datum noch ein Ort für das mögliche Treffen abgestimmt worden seien. Aber die Verhandlungen von Selenskij und Putin würden seines Erachtens stattfinden sowie inhaltsreiche und eventuell historische werden. In Russland erklingen keine optimistischen Erklärungen. Der Pressesekretär des russischen Präsidenten Dmitrij Peskow wiederholte am Mittwoch, dass Wladimir Putin bereit sei, sich in Moskau mit Wladimir Selenskij zu treffen, um die bilateralen Beziehungen zu erörtern. „Andere konkrete Formulierungen sehen wir bisher nicht.“ Er vermochte nicht auf die Frage von Journalisten zu antworten, ob der russische Präsident beispielsweise in den Vatikan für Verhandlungen mit Selenskij kommen würde. „Präsident Selenskij dass dies ein idealer Ort für ein Treffen sein könnte. Natürlich, weder der Vatikan weiß offiziell davon, wenn wir richtig verstehen, noch die russische Seite. Wir haben bisher keinerlei offiziellen Informationen darüber erhalten, dass solch ein Vorschlag konkretisiert und formuliert worden ist“.

Eine Quelle der russischen Nachrichtenagentur TASS im Vatikan betonte: „Der Präsident der Ukraine Wladimir Selenskij hat mit dem Vatikan seinen Vorschlag nicht abgestimmt. Und für den diplomatischen Dienst des Vatikans ist dies zu einer gewissen Überraschung geworden“. Er erklärte, dass ein Treffen im Vatikan organisiert werden könne, wenn sich beide Seiten – die ukrainische und die russische – mit solch einer Bitte an ihn wenden würden.

Während alle den Ort des möglichen Treffens der Präsidenten der Ukraine und Russlands erörterten, befand sich Wladimir Selenskij in Schützengräben. Er besuchte ukrainische Militärs im Verwaltungsgebiet Cherson.