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Selenskij wird mit Biden neue Donbass- und Krim-Ideen erörtern


Eine Delegation der Venedig-Kommission (eine Einrichtung des Europarates, die Staaten verfassungsrechtlich berät – Anmerkung der Redaktion) wird im September nach Kiew zwecks Erörterung des Gesetzentwurfs „Über die Staatspolitik der Übergangsperiode“ kommen. Es geht dabei um Rechtsnormen, die die ukrainische Seite hinsichtlich der Territorien anwenden will, die als „zeitweilig okkupierte“ anerkannt worden sind. Das Dokument, das Anfang des Jahres zum Kennenlernen vorgelegt wurde, ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt vom Umfang her wesentlich gekürzt worden.

Die ukrainische Regierung hatte die Arbeit an der Gesetzesvorlage im vergangenen Jahr aufgenommen. Alexej Resnikow, Vizepremier, Minister für Fragen der Reintegration der zeitweilig okkupierten Territorien der Ukraine und stellvertretender Leiter der ukrainischen Delegation bei den Minsker Verhandlungen, erläuterte, dass das Ziel des Gesetzentwurfs „die friedliche und sichere Reintegration unserer Territorien und unserer Bürger in die Ukraine und die ukrainische Gesellschaft“ sei. Und die Hauptaufgabe der Übergangsperiode sei die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Menschen.

Im Januar wurde die Gesetzesvorlage veröffentlicht, wonach die Regierung den Bürgern vorschlug, auf einer speziellen Internetseite ihre Anmerkungen und Vorschläge zu bekunden. Damals wurden Fragen dahingehend laut, warum es in dem Dokument keinen Abschnitt über Kollaboration gibt. Resnikow erklärte, dass die Autoren beschlossen hätten, auf die Verwendung des Begriffs „Kollaborateur“ zu verzichten, da die historischen Erfahrungen belegen würden, dass aufgrund seiner Anwendung unschuldige Menschen leiden können. Überhaupt hat sich das Dokument innerhalb eines halben Jahres verändert. Wie Juna Potjomkina, Beraterin des Ministers für Fragen der Reintegration der zeitweilig okkupierten Territorien, ukrainischen Journalisten berichtete, habe die Regierung über 1000 Seiten mit Anmerkungen und Vorschlägen erhalten. Der Wortlaut des Gesetzentwurfs habe aber im Ergebnis dessen nicht zugenommen, sondern sei kürzer geworden. Es waren fast 100 Seiten, nun sind es rund 30 geworden. „Das Dokument ist zu einem geworden, das einen weitaus größeren Rahmencharakter trägt“, erläuterte sie.

Das Wesen ist das bisherige geblieben: Die Gesetzesvorlage legt den Prozess eines Übergangs von der gegenwärtigen Situation auf den drei Territorien, die die Ukraine als „zeitweilig okkupierte“ anerkannte, zur Situation einer Wiederherstellung der ukrainischen Jurisdiktion im vollen Umfang fest. In der ersten Etappe sollen Elemente einer „Übergangs- (zeitweiligen) Rechtsprechung“ wirken. Vorgesehen ist ein Mechanismus für eine Anerkennung der in den nichtanerkannten Gebilden „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“ und auf der Krim ausgestellten Geburts-, Sterbe-, Heirats- und Scheidungsurkunden durch die ukrainische Seite. Nach Aussagen von Juna Potjomkina löse sehr viele Streitigkeiten die Frage nach der Anerkennung von Ausbildungszeugnissen aus. „Zum heutigen Zeitpunkt sind wir dazu gekommen, dass wir jene Zeugnisse beachten werden, die zum Schulabschluss ausgestellt worden sind“. Was die Diplome über eine Hochschulbildung angeht, so entscheidet man in der Ukraine noch, wie man sie bestätigen soll. Wahrscheinlich wird diese Prozedur in einem gesonderten Gesetz beschrieben werden.

Der Rahmen-Gesetzentwurf bestimmt die allgemeinen Herangehensweisen. Er verankert soziale Garantien für die Bewohner jener Territorien, über die die Ukraine sich anschickt, ihre Jurisdiktion wiederherzustellen, und regelt Eigentumsfragen. In dem Dokument ist gleichfalls von der Bildung einer Personalreserve an Staatsbeamten und Polizeibeamten die Rede. Minister Alexej Resnikow erläuterte früher: „Als alles in den Jahren 2014-2015 begann, hatten wenige angenommen, dass dies sieben und mehr Jahre andauern werde. Alle hatten geglaubt, dass morgen alles aufhören werde. Und man hatte keine bestimmten Schritte zur strategischen Planung unternommen…“.

Eine gesonderte Frage ist die nach dem Prozess der Wiederherstellung der Arbeit der ukrainischen Gerichte. Sie werden Amnestiebeschlüsse fassen. Der Amnestie-Prozedur an sich wie auch den Fragen eines Lustrierens kann ein gesondertes Gesetz gewidmet werden. Geplant ist, im Gesetzentwurf „Über die Staatspolitik der Übergangsperiode“ die gesamte Terminologie zu vereinen, die mit dem Konflikt zusammenhängt. Das zuständige Ministerium teilte jüngst mit, dass es um solche Definitionen gehe wie „politisch-diplomatische und Sanktionsmaßnahmen“, „de-okkupierte Territorien“, „Reintegration der zeitweilig okkupierten (de-okkupierten) Territorien“ und „stabiler Frieden“ gehe.

Was die russischen Pässe angeht, die den Bewohner der Territorien ausgestellt worden sind, die die Ukraine für „zeitweilig okkupierte“ hält, so läuft die prinzipielle Haltung Kiews auf deren Nichtanerkennung hinaus. Juna Potjomkina betonte: „Die Ausstellung eigener Pässe durch Russland auf den zeitweilig okkupierten Territorien wird als ein Akt der Nötigung unserer Bürger anerkannt. Und solche Pässe haben keinerlei Gültigkeit in der Ukraine. Und für uns bleiben diese Bürger auf jeden Fall Bürger der Ukraine“. In diesem Kontext kann daran erinnert werden, dass Wladimir Selenskij in einem Interview für den Fernsehkanal „Dom“ („Das Haus“) dieser Tage jenen empfohlen hat, nach Russland auszureisen, die sich mit Russland assoziieren würden.

Der Leiter des analytischen Zentrums „Penta“ Wladimir Fesenko betonte in seinem Blog, dass die Notwendigkeit „einer Antwort auf die Frage: wer bist du – ein Russe (nicht hinsichtlich der Nationalität, sondern in einem weiteren Sinne) oder ein Ukrainer (akademisch gesprochen würde ich sagen, dass es um eine staatsbürgerliche Selbstidentifikation geht)“ gemeint sei. Der Politologe lenkte das Augenmerk darauf: „Erstens erklangen seitens Wladimir Selenskij keine Verurteilung und keine Ultimaten hinsichtlich der einfachen Menschen, die diese Pässe erhielten. Er versteht, dass viele Bewohner einzelner Regionen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk, wie auch früher die Bewohner der Krim, gezwungen waren, russische Pässe zu empfangen. Oder man hat sie ihnen beinahe in einer „freiwillig-zwangsweisen Form“ ausgegeben (natürlich hat es auch nicht wenige jener gegeben, die diese Pässe bewusst und zielstrebig erhalten haben). Zweitens liegt die Verantwortung für diese Ausstattung mit Pässen bei der russischen Seite. Ja, und da erklang die Verurteilung sehr hart“.

Anfang Juni setzte Selenskij durch einen Erlass den Beschluss des Rates für nationale Sicherheit und Verteidigung „Über einige Fragen zur Aktivierung des Prozesses der friedlichen Regelung der Situation in den Verwaltungsgebieten Donezk und Lugansk“ in Kraft. Der komplette Inhalt des Dokuments ist nicht veröffentlicht worden. Es wurde aber mitgeteilt, dass die Regierung innerhalb von zwei Monaten „Gesetzentwürfe über die Einführung einer Rechtsprechung (Justiz) der Übergangsperiode auf den zeitweilig okkupierten Territorien der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk“ vorbereiten solle.

In der vergangenen Woche billigte das Ministerkabinett die Gesetzesvorlage „Über die Grundlagen der Staatspolitik der Übergangsperiode“. Vorgesehen ist, dass die Venedig-Kommission eine Entscheidung hinsichtlich des ukrainischen Gesetzes im Zeitraum vom 1. bis einschließlich 10. Oktober fällen wird. Und im September soll eine Delegation dieser Kommission nach Kiew kommen, die vor Ort alle Details des Gesetzentwurfs mit Vertretern der ukrainischen Behörden erörtern wird.

Bis zu jenem Zeitpunkt wird Wladimir Selenskij in Washington weilen, wo Fragen zum Donbass und zur Krim zu einem der Hauptthemen der Gespräche mit Joseph Biden werden. Der ukrainische Außenminister Dmitrij Kuleba sagte gegenüber ukrainischen Medien, dass Selenskij und Biden „mehrere sehr konkrete Ideen“ erörtern würden, die – wie entschieden wurde — vorab nicht veröffentlicht werden sollen.