Die drastische Zunahme der Corona-Erkrankungsrate könne Störungen in der Arbeit von Industriebetrieben, des Dienstleistungs- und Logistikbereichs auslösen, prognostiziert man in der Zentralbank Russlands. Solche Störungen sind bereits in den USA und in Ländern Europas registriert worden. Die russischen Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass es einen Personalüberschuss gibt. Und dieser Faktor kann die direkten wirtschaftlichen Verluste aufgrund des Ansteigens der Erkrankungszahlen abschwächen. Der Sozialversicherungsfonds (SVF) teilte am Donnerstag mit, dass im Januar in der Russischen Föderation fast sieben Millionen Krankenscheine ausgestellt wurden. Es gibt aber weitaus mehr Kranke, da die Polikliniken und Krankenhäuser bereits offenkundig mit dem Patientenansturm nicht fertig werden.
Den Ansturm von Patienten mit einer Coronavirus-Infektion in den russischen Krankenhäusern und ambulanten medizinischen Einrichtungen kann man als einen beispiellosen bezeichnen. Fast in jedem regionalen Zentrum oder jeder Großstadt bilden sich Warteschlangen, in denen die Menschen viele Stunden auf eine Konsultation bei einem Arzt warten müssen. Und in vielen Städten ist es praktisch unmöglich, zu einem Arzt zu gelangen. Um die Krise des russischen Gesundheitswesens abzuschwächen, haben die zuständigen Staatsbeamten den Bürgern Russlands erlaubt, eigenständig und ohne jegliche ärztliche Untersuchung Krankenscheine auszustellen.
Den Kollaps der einheimischen Medizin überwindet man auch durch andere Methoden. So hat der Gouverneur des Verwaltungsgebietes Jewgenij Kuiwaschew die Arbeitgeber der Region gebeten, den Arbeitnehmern entgegenzukommen und von ihnen keine Krankenscheine in Papierform zu verlangen. „Schauen Sie sich die Fotos an. Dies ist das, was sich derzeit in allen Polikliniken abspielt. Die Menschen stehen bzw. sitzen stundenlang in Warteschlangen, um zu einem Arzt zu kommen und einen Krankenschein zu bekommen. Ich bitte Sie, ihren Arbeitnehmern entgegenzukommen und in den nächsten Wochen von ihnen keine Krankenscheine in Papierform zu fordern“, erklärte er auf Instagram, wobei er den Arbeitnehmern vorschlug, spezielle Internetprogramme zu installieren und die entsprechenden Krankschreibungen in digitaler Form zu erhalten. Der Gouverneur sprach dabei davon, dass es nicht möglich sei, die Anzahl der Mediziner zu erhöhen, da in den medizinischen Einrichtungen schon jetzt auch Studenten arbeiten würden. Im Komitee für Gesundheitswesen von Petersburg gestand man ein, dass man nichts gegen das stundenlange Warten in den Polikliniken tun könne.
Der Gouverneur des Wolgograder Verwaltungsgebietes Andrej Botscharow bat die Arbeitgeber, von den Mitarbeitern keine Ausstellung von Krankschreibungen zu fordern. Er schlug vor, die Mitarbeiter mit Symptomen von Erkältungserkrankungen und Erkrankungen der oberen Atemwege für drei Tage für eine häusliche Selbstbehandlung freizustellen. Nach seinen Worten habe die Anzahl der Poliklinik-Besuche in diesem Zusammenhang um das 5fache zugenommen.
Den Ansturm von Kranken bestätigen auch die Zahlen des Sozialversicherungsfonds. Im SVF teilt man mit, dass im Januar rund 6,9 Millionen Krankschreibungen ausgestellt wurden. Seit dem 1. Januar werden die Krankenscheine nur in elektronischer Form ausgestellt. Einen Monat zuvor waren in der Russischen Föderation über fünf Millionen elektronische Krankschreibungen ausgestellt worden.
Im Vergleich zur Zeit vor COVID-19 sind die Ausgaben des SVR für die Bezahlung der Krankenscheine für die Bevölkerung fast um das 2fache angestiegen. Im Jahr 2020 setzte der Fonds rund 500 Milliarden Rubel für Auszahlungen in Bezug auf über 40 Millionen Fälle einer zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit ein. Gegenüber dem Jahr 2019 waren diese Ausgaben um 232 Milliarden Rubel angestiegen, teilte der Rechnungshof in seinem Gutachten zur Realisierung des SVF-Budgets für das Jahr 2020 mit. Und die Verluste der Wirtschaft aufgrund des zeitweiligen Ausfalls von Arbeitnehmern wurden mit einer Billion Rubel beziffert.
Die Situation hat sich auch im Jahr 2021 nicht verbessert. In den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres hat der SVF über 890 Milliarden Rubel ausgegeben. Im Vergleich zum analogen Zeitraum des Jahres 2020 sind die Ausgaben um das 1,4fache angestiegen. „Die umfangreichsten Mittel (872 Milliarden Rubel) wurden für das Programm „Sozialpolitik“ ausgegeben, von denen 67 Prozent Auszahlungen von Beihilfen auf der Grundlage der Versicherungsbeiträge für den Fall einer zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit und im Zusammenhang mit einer Mutterschaft waren“, teilte man im von Alexej Kudrin geleiteten russischen Rechnungshof in einem typischen Bürokraten-Russisch mit.
Analytiker der Zentralbank gestehen ein, dass der neue Coronavirus-Stamm zu einem relevanten Faktor für den Arbeitsmarkt werde, der auch so Schwierigkeiten aufgrund des Arbeitskräftemangels verspürt. „Ein Personalmangel ist bisher auf der Ebene einzelner Berufsgruppen und Unternehmen zu spüren. Er erfasst jedoch allmählich immer mehr Unternehmen“, erläutern Mitarbeiter der von Elvira Nabiullina geleiteten Zentralbank. Sie warnen, dass „bei einer gleichzeitigen Erkrankung eines erheblichen Anteils von Mitarbeitern Störungen in der Produktion und bei der Erbringung von Dienstleistungen auftreten werden“. Arbeitsminister Anton Kotjakow hatte zuvor mitgeteilt, dass sich die Arbeitslosigkeit in Russland auf dem historischen Minimum von 4,3 Prozent befinde.
Die Verringerung der Anzahl arbeitsfähiger Bürger lähmt in einer Reihe von Ländern bereits einzelne Wirtschaftsbranchen. Das United States Census Bureau (Volkszählungsamt der USA) hatte zuvor mitgeteilt, dass neun Millionen Arbeitnehmer in den ersten zwei Januarwochen nicht arbeiteten, da sie erkrankt waren, sich in Quarantäne befanden oder selbst Kranke pflegten. Dies sind rund sechs Prozent der Arbeitskräfte im Land. Einen Monat zuvor waren weniger als drei Millionen Amerikaner gezählt worden, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nicht gearbeitet hatten.
In Russland hat die drastische Zunahme der Erkrankungsrate aufgrund des Omikron-Stamms die gleichen Wirtschaftsbereiche wie auch in anderen Ländern getroffen. „Gelitten haben der Dienstleistungs- und Zustellbereich sowie das Bau- und Transportwesen. Registriert werden Fälle einer Verschiebung von Zustellfristen. Es mangelt an Personal an den Supermarktkassen usw.“, konstatiert der Marketingdirektor von Kelly Services Shanna Wolkowa. „Aufgrund von Erkrankungen der Mitarbeiter leiden in erster Linie der Dienstleistungsbereich, das Gaststättenwesen und das Transportwesen“, sagt Sergej Kutschin aus der Investitionsfirma „BKS Welt der Investitionen“.
Ein Teil der Kleinunternehmen im Gastronomiebereich hat bereits geschlossen oder ist in den Graubereich gegangen. Aber aufgrund des geringen Anteils des Kleinunternehmertums und des Mittelstands an der russischen Wirtschaft werden die Verluste des BIP und des Haushalts keine schmerzhaften sein“, nimmt Andrej Wernikow aus dem Unternehmen „Univer Capital“ an.
Aufgrund von Omikron leiden die Gastronomie, die Fitness-Industrie, Event-Agenturen und der Fashion-Einzelhandel am meisten, erklärt Felix Kugel, Geschäftsführer des Personalunternehmens Unity. „In den Cafés und Einkaufszentren hat sich der Besucherverkehr praktisch um die Hälfte verringert. Gegenwärtig empfiehlt das Arbeitsministerium, eine maximale Anzahl von Mitarbeitern zu Hause zu belassen. Dies wirkt sich noch mehr auf die Besucherzahlen der Einkaufszentren aus“, betont er.
In der Statistik für Januar sehen wir sowohl einen Rückgang der Verkaufszahlen in den Offline-Geschäften als auch eine Verringerung der Ausgaben für den Transport, was mit der großen Anzahl von Erkrankten zu erklären ist, sagte Anna Bodrowa, Senior-Analytikerin des analytischen Zentrums „Alpari“. „Bei weitem nicht alle brauchen heute einen offiziellen Krankenschein. Dies bedeutet, dass die reale Zahl der erkrankten Arbeitnehmer um 15 bis 20 Prozent über der offiziellen Zahl liegen kann“, urteilt sie.