Der Chefredakteur von „Rain“ (in Russland als ein Massenmedium, dass die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllt) Tichon Dsjadko (in Russland als eine natürliche Person abgestempelt, die als ein ausländischer Agent wirkt) hat bei einer Diskussion mit Vertretern der lettischen Behörden die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass man den Mitarbeitern des Fernsehkanals nicht die Visa entzieht und nicht nötigt, das Land zu verlassen. Zuvor waren in der Presse Meldungen aufgetaucht, dass die Verwaltung für Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsangelegenheiten Lettland eine entsprechende Prüfung begonnen hätte.
Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, antwortete auf eine Frage nach dem Entzug der Sendelizenz für „Rain“: „Die ganze Zeit scheint irgendwem, dass es irgendwo besser als zu Hause ist. Und die ganze Zeit scheint es irgendwem, dass es irgendwo Freiheit gibt, zu Hause aber Unfreiheit. Dies ist eines der markanten Beispiele, dass die Fehlerhaftigkeit solcher Illusionen demonstriert“.
In Telegram-Kanälen tauchten Gerüchte auf, wonach man den Mitarbeitern von „Rain“ anbieten könne, nach Russland zurückzukehren. Es ist nicht einfach, dem Glauben zu schenken. Der Status eines ausländischen Agenten macht die Arbeit von Medien in Russland zu einer äußerst schwierigen. Und die Offiziellen haben nicht ein einziges Mal öffentlich irgendwen von den Ausgereisten aufgerufen zurückzukehren.
Die Mitarbeiter von Medien, die als ausländische Agenten gelabelt wurden, sind vor allem im Frühjahr, nach Beginn der russischen militärischen Sonderoperation in der Ukraine am 24. Februar. Derzeit spricht man in Russland mehr von einer zweiten Welle einer zeitweiligen Emigration, ausgelöst durch die am 21. September verkündete Teilmobilmachung. Präsident Wladimir Putin hat bei einem Treffen mit Mitgliedern des Präsidialrates für Menschenrechte den Ausgereisten keine Wertung gegeben, wobei er die Annahme äußerte, dass einige von ihnen möglicherweise Russland nicht für ihr (Heimat-) Land halten würden.
Nach Aussagen von Dmitrij Peskow würden im Kreml keine Gespräche weder darüber, diejenigen, die das Land während der Mobilmachung verließen, irgendwie zu bestrafen, noch darüber, deren Rückkehr nach Hause zu stimulieren, geführt werden. Senator Andrej Klischas (Kremlpartei „Einiges Russland“) äußerte seinerseits die Meinung, dass man für die Ausgereisten, aber weiterhin online in russischen Unternehmen arbeitenden Bürger Russlands solch eine Möglichkeit einschränken müsste. Klischas hält sie nicht für Kriminelle, ist aber der Annahme und gar der Auffassung, dass das Handeln solcher Menschen aus moralisch-ethischer Sicht zu verurteilen sei.
Die Bürger, die Russland im Frühjahr oder Herbst dieses Jahres verlassen hatten, gehören vor allem zur Mittelklasse. Dies sind ausgebildete Stadtbewohner, Intellektuelle, Mitarbeiter hochtechnologischer, modernster Wirtschaftssektoren, Menschen aus dem Kultur- und Kunstbereich, die geistige Arbeit gewohnt sind. In den letzten Wochen haben Offizielle begonnen, von der Notwendigkeit zu sprechen, die AI-Technologien zu entwickeln, kein Zurückbleiben in Bezug auf die fortgeschrittensten Volkswirtschaften zuzulassen. Kann man dies denn gewährleisten, wenn man nicht die Emigration stoppt und nicht danach strebt, die Menschen zurückzuholen?
Sicherlich kann man dies. Dafür ist aber Zeit erforderlich. Doch von der gibt es nicht sehr viel, da die konkurrierenden Länder nicht mit derartigen Schwierigkeiten konfrontiert werden. Um Menschen zu ersetzen, beginnend bei Designern und Gestaltern von Werbung und bis hin zu Entwicklern von Hochtechnologien, muss man sie ausbilden. Gerade daher wird intellektuelle, kreative Arbeit auf dem Markt besser als rein physische bezahlt. Solche Spezialisten muss man länger ausbilden. In sie investiert man mehr. Es ist leichter, die Menschen, die mögen sie auch energieaufwendige, aber einfache Handlungen ausüben, zu ersetzen.
Die Offiziellen können öffentlich (und dabei eventuell auch heucheln – Anmerkung der Redaktion) ihre Position signalisieren: Wir verstehen nicht, vor was die Menschen Angst bekommen haben. Sie bedroht nichts. Sie hätten nicht ausreisen müssen. In der entstandenen Situation ist die Frage nach dem objektiven Charakter der Ursache für die Angst sekundär. Objektiv ist die eigentliche Tatsache: Die Menschen fürchten um ihre Sicherheit, um ihre Freiheit. Der Staat kann diese Ängste zur Kenntnis nehmen und die Bedingungen verändern. Oder aber einen Ersatz vorbereiten, wobei er Zeit und Mittel dafür investiert. Automatisch Menschen aus anderen Sektoren in den intellektuellen Wirtschaftssektor zu versetzen, gelingt nicht.
Das bisherige Leben gibt es für die Ausgereisten nicht mehr, denn derzeit werden nach ihrer Meinung ihre Basisbedürfnisse im Land nicht befriedigt. Für sie geht es schon nicht mehr um eine Selbstaktualisierung, um politische Freiheit und ein berufliches Wachsen. Sie sind sozusagen die Pyramide der Bedürfnisse heruntergestiegen. Und dies kann sie auch in anderen Ländern betreffen, wenn sie dort für lange bleiben werden.