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Soziale Probleme kann man nicht mit einem Niqab verschleiern


Der Vorschlag des Vorsitzenden des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen, Valerij Fadejew, in Russland das Tragen von Niqabs (von muslimischen Frauen getragener Gesichtsschleier – Anmerkung der Redaktion) zu verbieten, ist auf Widerstand des Muftis von Moskau entsprechend der Version der Geistlichen Verwaltung der Moslems der Russischen Föderation, Ildar Aljautdinow, gestoßen. Fadejew hatte eine Verbindung der Verbreitung immer strengerer Modelle des religiösen Verhaltens unter den einheimischen Anhängern des Islams mit einer Gefahr durch die Einwanderung und Desintegration von Zugereisten hergestellt. Er führte dabei auch das Beispiel an, dass sich Einwanderer für Kampfsportarten begeistern würden.

Es muss gesagt werden, dass es auch bei den einheimischen, islamisch gebundenen Bürgern der Russischen Föderation ein Interesse für Kampfsportarten gibt und diese unter ihnen populär sind. Wie auch das Tragen von Niqabs – das Prinzip einer Verschleierung der für andere Augen verbotenen Körperteile einer Frau. Ein Niqab erlaubt, nur die Augen unbedeckt zu lassen. Diese puritanische Herangehensweise löst die in Russland bereits Fuß gefasste Tradition der Hijabs ab, bei der das gesamte Gesichtsoval zu sehen ist. Noch vor einigen Jahren waren vollkommen verschleierte Musliminnen – bis auf einen schmalen Augenschlitz — in russischen Städten eine Seltenheit, jetzt aber sind sie immer häufiger anzutreffen. Mitunter kann man auch Frauen in einem Tschador, bei dem es sich um ein dichtes Netzgewebe handelt, das das gesamte Gesicht verdeckt, sehen.

Fadejew betonte, dass in vielen moslemisch geprägten Ländern Niqabs verboten sind. Jüngstes Beispiel ist Tadschikistan, wo das Parlament dieser Tage ein Tragen selbst von Hijabs und nicht nur von Niqabs an öffentlichen Orten verboten hat, obgleich in den vergangenen Jahrhunderten die strengsten Regeln für ein Verschleiern des Frauenkörpers in Zentralasien praktiziert wurden. Heute gelten sie in Afghanistan und Pakistan und noch hier und da im fernen muslimischen Ausland.

Aljautdinow ist jedoch der Auffassung, dass ein derartiges Verbot imstande sei, Konfliktsituationen in der russischen Gesellschaft zu schaffen. Indirekt gestand der Mufti ein, dass es in der Russischen Föderation bereits religiöse Mentoren geben könne, die ihren Anhängerinnen vorschreiben, gerade jene Form eines Verschleierns von Gesicht und Körper einzuhalten, die als Niqab bezeichnet wird. „Diese Frage war stets und bleibt eine Diskussionsfrage. Islamische Wissenschaftler äußern unterschiedlichste Meinungen in Bezug auf die Niqabs – von einer neutralen bis zu einer Pflicht“, sagte Aljautdinow in einem Gespräch mit der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS. Bekanntlich gibt es im Islam keine einheitliche Hierarchie, und es existiert eine Vielfalt von Herangehensweisen an theologische Fragen.

Die vom Vorsitzenden des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen beschriebene Tendenz, die von ihm geäußerten Befürchtungen, aber auch die uneindeutige Reaktion des Muftis erlauben die Annahme, dass eine Diskussion in der Gesellschaft wirklich notwendig ist. Es muss nur betont werden, dass dies bereits die zweite Etappe des Streits um die muslimische Bekleidung ist. Im Verlauf von zwei Jahrzehnten wurden Diskussionen über die Hijabs geführt. Und jetzt ist das moslemische Orthodoxe in der Russischen Föderation auf eine neue Ebene gekommen.

Die Tendenz hat mehrere Ursachen. Beispielsweise die sattsam bekannte Wende Russlands gen Osten, aber auch die falsch verstandene generelle Orientierung der Gesellschaft auf die traditionellen Werte. Der Staatsduma-Abgeordnete Ildar Gilmutdinow (aus Tatarstan, Kremlpartei „Einiges Russland“) hat zum Beispiel die Annahme bekundet, dass ein Verbot der Niqabs die Beziehungen der Russischen Föderation mit der islamischen Welt verschlechtern könne. Solch eine Argumentation demonstriert, dass eine zu drastische Wende gen Osten bestimmte Unwägbarkeiten in sich birgt. Denn, wenn der generelle Sinn der Außenpolitik Moskaus in den letzten Jahren in einem Deutlichmachen einer absoluten Souveränität besteht, so dürften keinerlei Bündnisbeziehungen diesen Trend erschüttern. Russland ist sowohl souverän gegenüber dem Osten wie auch gegenüber dem Westen.

Das Gleiche betrifft auch den Traditionalismus. Es ist eine große Frage: Kann man die Mode in Bezug auf die Niqabs als eine Hinwendung zu konservativen Werten ansehen? Viele Experten betonen, dass die extremen Fälle im Darstellen der religiösen Identität eher durch eine Reaktion auf eben solche extremen Fälle von Progressivität zu begründen seien und eher eine durchaus postmodernistische Vorstellung von Glaubenseifer denn eine Hinwendung zu den Erinnerungen der Vorfahren darstellen würden. Ja, und daher muss die Deklaration traditioneller Werte durch Erläuterungen und Präzisierungen ergänzt werden. Die Gesellschaft muss wissen, worin gerade die Traditionen der Völker Russlands bestehen und wo die Grenze zwischen einem gesunden Konservatismus und religiösem Fanatismus, zwischen den Erinnerungen der Vorfahren und einer radikalen Obskurität verläuft.