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Staatsduma hat keine Zeit für schwerkranke Gefangene


Bis zum 29. Februar sammelt die Staatsduma Reaktionen zu einer Gesetzesvorlage des Obersten Gerichts der Russischen Föderation über die unverzügliche Umsetzung von Gerichtsentscheidungen zur Freilassung schwerkranker Häftlinge. Der Gesetzentwurf war am 18. Dezember eingebracht worden, wurde fast den ganzen Januar auf die lange Bank geschoben und ist nun für eine Behandlung im März ohne ein genaues Datum geplant. Experten betonen den ernsthaften Charakter solch einer Humanisierung, bezweifeln aber, dass sich die Situation schnell verändern werde.

Gemäß den Gesetzesänderungen im Paragrafen 399 der Strafprozessordnung soll die Person sofort aus der Haft entlassen werden, das heißt, noch bevor die Entscheidung über die Freilassung aufgrund der jeweiligen schweren Krankheit formal in Kraft getreten ist. Derzeit ruhen derartige Beschlüsse 15 Tage lang für ein mögliches Anfechten.

Solch eine Praxis ist als eine Verletzung des Rechts auf eine würdige Heilbehandlung und folglich auch als eine mögliche Bedrohung für das Leben anerkannt worden. Laut dem Erläuterungsschreiben zur Gesetzesvorlage harmoniere die gegenwärtige Regelung für die Modalitäten und Fristen für eine Freilassung eines schwerkranken Verurteilten „nicht vollkommen mit der Verfassung, den Zielen der Bestrafung sowie den Prinzipien des Humanismus und einer rationalen Anwendung von Maßnahmen zur Nötigung“. Entsprechend der beigefügten Statistik liege im Verlauf der letzten Jahre die Zahl der Freilassungen aufgrund schwerer Erkrankungen auf einem Stand von 2100 Fällen im Jahr.

Während aber die Strenge der russischen Gesetze mitunter durch eine Unverbindlichkeit deren Umsetzung abgeschwächt wird, ergibt sich sofort die Frage, wie Menschen mit äußerst schweren Erkrankungen überhaupt in U-Haftanstalten oder Straflagern geraten. Schließlich ist aus den vorgelegten Dokumenten und auch auf den ersten Blick ihr Zustand ersichtlich. Und es gibt auch nicht wenige Geschichten, in denen man Angeklagte auf Tragen in die Gerichtssäle bringt und danach auch noch zu Haftstrafen in Lagern verurteilt.

Wie der Anwalt Alexander Karawajew anmerkte, wurde die Entscheidung des Obersten Gerichts über diese Gesetzesinitiative am Tag der Verfassung, am 12. Dezember getroffen, was natürlich symbolisch ist. Das Oberste Gericht weist korrekt darauf hin, dass das Grundgesetz der Russischen Föderation sowohl das Recht auf Leben als auch die Unzulässigkeit harter Bestrafungen sowie eine rationale Anwendung von Maßnahmen zur Nötigung proklamiert. Dies bedeutet an und für sich die Pflicht einer unverzüglichen Freilassung des Verurteilten, der an einer schweren Krankheit leidet, die das Verbüßen einer Strafe in Form von Freiheitsentzug ausschließt. Jedoch „müsste der 15-Tage-Frist für ein Anfechten der Gerichtsentscheidung auch Zeit für ein Überweisen des Falls an eine Berufungsinstanz und dessen Behandlung hinzugefügt werden“. Das heißt: Die Zeit des Wartens kann sich ganz und gar über Wochen oder Monate in die Länge ziehen. In derartigen Situationen zähle aber im Grunde genommen jeder Tag, erinnerte Karawajew. Nach seinen Worten kenne die Anwaltscommuntiy Todesfälle von Schwerkranken, in deren Hinsicht es die Gerichte einfach nicht geschafft hatten (oder sich einfach nicht bemühten – Anmerkung der Redaktion), bereits eingereichte Freilassungsanträge zu behandeln.

Anwalt Jewgenij Rubinstein, Berater der Föderalen Anwaltskammer der Russischen Föderation, betonte, dass ein Mensch mit einer schweren Erkrankung offensichtlich für die Gesellschaft nicht gefährlich und wohl kaum zu einer Rechtsverletzung imstande sei. „Kriminologische Daten enthalten zumindest keinerlei gegenteilige Auffassungen in Bezug auf die ausgewiesene These. Daher ist es unabhängig vom vorangegangenen Verhalten des Verurteilten aus menschlicher Sicht richtig, dass er seine letzten Tage mit Verwandten verbringt“, meint er. Und der Staat sei verpflichtet, die Bewahrung dieser allgemeinen menschlichen Traditionen zu fördern. Derweil nimmt das komplizierte Prozedere für die Feststellung einer schweren Erkrankung, die dem Verbüßen einer Bestrafung widerspricht, den Nächsten praktisch die Möglichkeit, den Verurteilten lebend zu sehen. In dieser Situation, erklärte Rubinstein, würden die Normen für die Möglichkeit eines Anfechtens des jeweiligen Urteils die Umsetzung dieser Pflicht des Staates behindern. Und daher sei es „zweckmäßig, Bestimmungen analog denen für die Auswahl einer Unterbindungsmaßnahme in Form einer Inhaftierung festzulegen“. Sie müssten unverzüglich umgesetzt werden, können aber angefochten werden. Allerdings sei die Initiative des Obersten Gerichts nach seiner Meinung offenkundig unzureichend für eine Behebung der Situation. Schließlich würden die Gerichte „nach wie vor die bestehenden Erkrankungen bei der Klärung der Fragen über Inhaftierungen oder die Festlegung einer Bestrafung nicht berücksichtigen“.

Die Gesetzesänderungen seien zweifellos schon längst fällig gewesen, sagte der „NG“ Maria Botowa, Mitglied der Öffentlichen Beobachterkommission Moskaus. Sie erinnerte aber daran, dass selbst bedeutsame Gesetzesänderungen bei weitem nicht immer zu positiven Ergebnissen führen würden. Denn in der Praxis „werden sie nicht immer so umgesetzt, wie man dies gern möchte. Ja, und oft ist auch unklar, wie man sie denn realisieren soll“. Laut ihren Worten mache es jedoch ganz bestimmt Sinn, darüber zu sprechen, wie überhaupt Bürger mit schweren Formen von Krankheiten hinter Gitter geraten. Warum kann man sie nicht bereits in der Etappe der Untersuchungen, ja selbst vor einer Inhaftierung ermitteln? Botowa verwies auch darauf, dass es überhaupt äußerst schwer sei, eine Freilassung schwerkranker Häftlinge zu erreichen. Mitunter kommt es aber aufgrund subjektiver zu einer Freilassung von solch Schwerkranken, dass „dies bereits praktisch palliative Fälle sind“.

Der Vizepräsident der russischen Abteilung des Internationalen Komitees für die Verteidigung der Menschenrechte, Iwan Melnikow, unterstrich, dass es auch solch ein Problem wie das Ablehnen der Vornahme eines medizinischen Gutachtens aufgrund formeller Ursachen gebe. Und in der Praxis komme es auch noch oft vor, dass die Mediziner, die zum Personal der Rechtsschutz- und Sicherheitsstrukturen gehören, nicht immer objektive Diagnosen stellen würden. So könnten sie mitunter schwere Erkrankungen nicht „ausmachen“. Die Anträge von Verwandten oder der Verteidigung auf eine Untersuchung in anderen medizinischen Einrichtungen und nicht in gefängniseigenen könnten durch die Gerichte auch einfach ignoriert werden.

Derweil erklärte Wadim Jalowizkij, Sonderberater des Anwaltskollegiums „Pen & Paper“, gegenüber der „NG“, dass die Probleme kranker Häftlinge wirklich auf einem „Nichtvorhandensein der Möglichkeit im Strafvollzug, qualifizierte medizinische Hilfe zu gewährleisten“, beruhen würden. Und es sei offensichtlich: Die sehr schweren Erkrankungen, die zu dem Verzeichnis gehören, dass durch die Regierung Russlands festgelegt wurde, sind nicht grundlos in diesem, denn ihr Verlauf und ihre Entwicklung sind mit einer Gefahr für das Leben verbunden. Und die Effektivität der Heilbehandlung hängt mit dem Vorhandensein hochqualifizierter Spezialisten, kostspieliger Medikamente sowie komplizierter, das heißt auch teurer medizinischer Ausrüstungen zusammen. Doch der Ausstattungsgrad der medizinischen Einrichtungen des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug werde all dem nicht gerecht. Und in der nächsten überschaubaren Zukunft werde sich die Situation dort auch nicht verändern, ist Jalowizkij überzeugt. „Daher ist die Absicht des Obersten Gerichts, die Zeitdauer des Verweilens in einer Einrichtung des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug zu „verkürzen“, durchaus erklärbar. Aus dieser Sicht zielt die Neuerung zweifellos auf eine Erhöhung der Überlebenschancen ab“, unterstrich er. Zur gleichen Zeit erklärte er aber, dass dies offensichtlich die Probleme nicht löse. Und daher sei es kein Zufall, dass vorgeschlagen wird, auch noch die Pflicht der Verwaltung der Einrichtung, in der sich der jeweilige Kranke befindet, in den Paragrafen 399 der Strafprozessordnung aufzunehmen, beim zuständigen Gericht eine Freistellung von der jeweiligen Bestrafung zu beantragen. Früher konnte dies nur der jeweilige Verurteilte selbst initiieren. Anders gesagt: „Die Gesetzesvorlage macht völlig transparent den Gefängnisadministrationen deutlich, dass man sich diesem Prozess anschließen muss“.

Die Praxis zeige, konstatierte der Anwalt, dass in der überwältigenden Mehrheit der Fälle die schwere Erkrankung des Menschen auftritt, noch bevor an den Ort für das Verbüßen der Freiheitsstrafe gelangt. Folglich ergebe sich die Frage nach der Notwendigkeit einer medizinischen Untersuchung noch vor dem Stadium einer Inhaftierung. Die Verwaltungen der U-Haftanstalten seien meistens nicht an der Durchführung einer Untersuchung interessiert, würden den jeweiligen Kranken unterschiedliche Behinderungen organisieren. Das medizinische Personal lehne es z. B. ab, Klagen über den Gesundheitszustand zur Kenntnis zu nehmen, Krankenkarten anzulegen und zu führen. Und die Gefängnisbeamten würden es ablehnen, Bitten der Inhaftierten um eine medizinische Untersuchung nachzukommen, erläuterte Jalowizkij. Nach seinen Worten „war dies besonders auffällig während der COVID-Pandemie gewesen, als sowohl die Leitungen der U-Haftanstalten als auch die Untersuchungsrichter bei einem Ignorieren durch die für eine Aufsicht zuständigen Staatsanwälte medizinische Untersuchungen in spezialisierten städtischen medizinischen Einrichtungen selbst für jene verweigerten, bei denen der COVID-Test positiv ausgefallen war, das heißt ungeachtet der Anweisungen des Gesundheitsministeriums und des Föderalen Dienstes für den Strafvollzug“. Die nunmehrige Gesetzesvorlage schaffe zweifellos Bedingungen für eine Erhöhung der Garantien für Schwerkranke, meint der Anwalt. Denn je früher die Möglichkeit eines Zugangs zu notwendiger medizinischer Hilfe gewährleistet werde, desto größer seien die Chancen zu überleben. Die Effektivität eines jeglichen Gesetzes hänge jedoch, sagte Jalowizkij der „NG“, von der Gewissenhaftigkeit bei seiner Anwendung ab. Dafür sei es aber notwendig, eine Haftung jener vorzusehen, die sich einer Umsetzung der festgeschriebenen Garantien entziehen oder solche Tatsachen entgegen den Dienstpflichten nicht zur Kenntnis nehmen.

Post Scriptum:

Im vergangenen Jahr blieben der Redaktion „NG Deutschland“ zwei Fälle in besonderer Erinnerung, in denen Richterinnen (!) entgegen jeglicher Logik langjährige Haftstrafen gegen Kritiker der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine verhängten. Im Verwaltungsgebiet Kaliningrad wurde Igor Baryschnikow zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen angeblicher Fake-News über die russische Armee verurteilt. Bereits vor dem Urteilsspruch saß der 64jährige im Gerichtssaal mit einem Bauchdeckenkatheter als einen künstlichen Harnblasen-Ausgang, zumal ein medizinisches Gerichtsgutachten auswies, dass er Krebs habe. Die zuständige Richterin hatte dies aber nicht von einem Urteil mit Festlegung einer Haftstrafe abgehalten. Gleiches gilt auch für die Petersburgerin Alexandra Skotschilenko. Die junge Frau hatte in einem Supermarkt einige (fünf) Preisschilder gegen Sticker mit Informationen über den Ukraine-Konflikt ausgetauscht. Richterin Oksana Demjaschewa sah dies als Grund, um die heute 33jährige zu sieben Jahren Lagerhaft zu verurteilen. Dabei ignorierte sie vollkommen, dass A. Skotschilenko unter anderem unter Glutenunverträglichkeit leidet. Die ausgewiesenen Fälle sind leider in russischen Gerichten keine Seltenheit, nehmen scheinbar gar seit Beginn der militärischen Sonderoperation zu. Und ob da die Initiative des Obersten Gerichts in der Staatsduma maximale Unterstützung erhalten wird, ist fraglich. Das von Wjatscheslaw Wolodin geleitete russische Unterhaus hat offenkundig mit anderem zu tun. Für die Jagd auf Regimekritiker wird sehr viel Zeit aufgewandt. Erst jüngst wurde ein Gesetz durchgewunken, das eine Konfiszierung von Eigentum derjenigen möglich macht, die sich gegen die erwähnte Sonderoperation stellen oder die russische Armee diskreditieren. Letzten Samstag wartete der Politiker aus der Kremlpartei „Einiges Russland“ mit einer neuen Idee auf. Um den sogenannten ausländischen Agenten unter den Bürger Russlands gänzlich den Geldhahn abzudrehen, soll demnächst ein Gesetz verabschiedet werden, dass untersagt, Werbung auf den Seiten „ausländischer Agenten“ zu posten.