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Straßburger Richter staunten erneut über die Einäugigkeit der russischen Themis


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Ablehnung der Vorladung von Zeugen der Verteidigung aus einem Straflager zwecks Vernehmung bei einem Prozess als unzulässig anerkannt. Die Anwälte bestätigen, dass die Untersuchungsorgane, die Staatsanwaltschaft und – das Wichtigste – die Richter die Verteidiger bei dem Vorbringen von Beweisen, die einem Freispruch helfen können, nicht unterstützen wollen. Der EGMR zeigte sich erneut über die Neigung der russischen Themis erstaunt, sich nur auf die Seite der Anklage zu stellen. Freilich in diesem Fall hatte dies einen politischen Hintergrund – die in der Russischen Föderation verbotene National-Bolschewistische Partei.

In dem Beschluss zum Fall „Kudrina gegen die Russische Föderation“ verwies der EGMR darauf, dass, wenn die Anwälte nicht selbständig das Erscheinen von Zeugen in dem Fall „aufgrund objektiver Ursachen“ gewährleisten können, so ist das Gericht verpflichtet, ihnen Unterstützung zu leisten.

In Straßburg hat man als ungerecht die gerichtliche Untersuchung hinsichtlich der Ex-Aktivistin der verbotenen National-Bolschewistischen Partei Olga Kudrina anerkannt. Sie war in Abwesenheit zu 3,5 Jahren Lagerhaft wegen dem Aufhängen eines Anti-Putin-Plakats am Hotel „Rossija“ (bis Ende 2005 das größte Hotel Europas, das sich gegenüber dem Moskauer Kreml befand, abgerissen wurde und so Platz für den neuen Park „Sarjadje“ machte – Anmerkung der Redaktion) verurteilt worden. Sie hatte es geschafft, das Land zu verlassen, Ihrem Komplizen gab man eine Bewährungsstrafe. Und der Richter hat dies damit begründet, dass Kudrina früher (im Jahr 2004) angeblich an der „Besetzung des Gesundheitsministeriums“ teilgenommen hätte, als die National-Bolschewiken gegen eine Monetisierung von Vergünstigungen protestiert hatten. Sie hatte ihre Beteiligung bestritten. Um dies zu bestätigen, hatte ihre Verteidigung gebeten, sechs Zeugen aus den Reihen der verurteilten Teilnehmer dieser Aktion, die ihr Alibi hätten bestätigen können, zum Prozess vorzuladen. Die Staatsanwaltschaft hatte darauf bestanden, dass „bereits hinreichende Beweise dem Gericht vorgelegt wurden“. Und da der Anwalt eine Befragung von Zeugen für notwendig halte, möge er doch selbständig deren Erscheinen gewährleisten. Der Richter bestätigte, dass die Gewährleistung eines Erscheinens von Zeugen nicht zu den Pflichten der Anklage gehöre.

In ihrer Antwort auf die vom EGMR gestellten Fragen verwies die russische Regierung in Gestalt des Justizministeriums darauf, dass „die Frage der Zweckmäßigkeit einer Vorladung von Zeugen unmittelbar das Gericht klärt“. Nach Meinung des EGMR jedoch hätte in diesem Fall der Richter wissen müssen, dass Kudrina nicht mit eigenen Kräften das Erscheinen von Zeugen gewährleisten können. Ignoriert wurde auch, dass die neuen Aussagen die Situation für die Angeklagte hätten verändern können. Daher untergrabe die Weigerung der Gerichte der Russischen Föderation, verurteilte Zeugen seitens der Verteidigung vorzuladen, „die generelle Gerechtigkeit der gerichtlichen Untersuchung in Bezug auf den Antragsteller“, womit die Artikel 6 und 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt werden.

Wie der Kudrina-Anwalt Dmitrij Agranowskij gegenüber der „NG“ erläuterte, sei dieser Fall ein Beispiel dafür (von vielen – Anmerkung der Redaktion), dass ein Gerichtsprozess in der Russischen Föderation einen anklagenden Charakter trage. Nach Aussagen Agranowskijs sei es für die Anwälte schwer, eine Unterstützung zu erreichen. Die Gerichte, erinnerte er, hätten Fristen für eine Behandlung von Fällen. Es ist klar, dass ein langwieriger Transport von Zeugen aus einem Straflager, was wahrscheinlich eine Verschiebung der Verhandlungen erfordert, den Gerichten nicht rechtens sei. „Heute kann man nicht von einem kontradiktorischen (wettbewerbsartigen) Charakter des Prozesses sprechen. Die Möglichkeiten eines Anwalts und der Anklageseite sind nicht zu vergleichen. Die Gerichte halten es nicht für nötig, uns Hilfe bei der Sammlung von Beweisen, insbesondere Unterstützung bei der Zustellung von Zeugen, die sich in Haft befinden, zu gewähren. Wir selbst können dies aber nicht run“, unterstreicht Agranowskij.

Wie gegenüber der „NG“ der Anwalt und Leiter der Praxis „Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung“ des Anwaltsbüros „Bischenow und Partner“ Sergej Kirillow bestätigte, schenke das Gericht immer häufiger den allgemeinen Prinzipien der Strafrechtsverfahren keine Beachtung (obgleich sie auch fundamentale sind), sondern legt den Akzent auf eine Nichteinmischung, „da dies angeblich von einer Interessiertheit des Richters zeugen könne“. „Jedoch wird nicht zur Kenntnis genommen, dass die Organe der Staatsanwaltschaft von Anfang an in diesen Fragen der Beziehungen zwischen den Institutionen weitaus mehr Vollmachten haben. Dementsprechend wird der Seite der Verteidigung automatisch eine riesige Liste der Beweisbasis genommen… Es gibt keine gleichen Rechte bei ungleichen Möglichkeiten“, resümierte der Experte.

„Ein kontradiktorischer (wettbewerbsartiger) Charakter in einem russischen Strafrechtsprozess ist nicht so oft in der Praxis anzutreffen, wie man es gerne hätte“, betont der geschäftsführende Partner des Rechtsunternehmens AVG Legal, Alexej Gawrischew. Er bestätigte, dass es für die Verteidiger in Strafrechtssachen schwierig sei, das Erscheinen jeglicher ihrer Zeugen zu gewährleisten, ganz zu schweigen von jenen, die eine Bestrafung verbüßen. Dabei ist es offensichtlich, dass sowohl die Gerichte als auch die Staatsanwaltschaft und die Untersuchungsbehörden eine gemeinsame Position vertreten. Und rechtliche Gleichstellung und ein wettbewerbsartiger Charakter der Seiten würden sie wenig bewegen. Die Position des EGMR habe nach Aussagen des Anwalts ein weiteres Mal den russischen Offiziellen die Notwendigkeit der Einhaltung einer rechtlichen Gleichstellung der Seiten aufgezeigt, aber „man kann mit Gewissheit sagen, dass dies in keiner Weise die Praxis Russlands beeinflusst“.

Nach Aussagen des Leiters der Strafrechtspraxis der BMS Law Firm Alexander Inojadow vertreten die Richter oft die Position der Anklageseite bei der Festlegung der Modalitäten für die Untersuchung der Beweise, wobei sie dies ausnutzen, dass solche Entscheidungen eigenständig nicht angefochten werden. „Die Antragsteller sind gezwungen, eine mehrstufige und von der Zeit her aufgeschobene Prozedur der Beschwerdeführung hinsichtlich des abschließenden Gerichtsaktes zu durchlaufen, wie dies auch in dem untersuchten Fall geschehen war“.

„Das angeführte Beispiel stellt einen weiteren Beweis für das Fehlen einer rechtlichen Gleichstellung der Seiten im russischen Strafrechtsprozess dar. Ungeachtet der formellen Verankerung des Prinzips des kontradiktorischen Charakters in der Strafprozessordnung kommt es in der Praxis ganz anders“, betonte der geschäftsführende Partner der Sankt Petersburger Vertretung des Anwaltskollegiums Pen & Paper, Alexej Dobrynin, gegenüber der „NG“. Seinen Worten zufolge bestehe die Position der russischen Gerichte oft darin, dass für die Behandlung eines Falles vom Wesen her die Materialien ausreichend seien, die durch die Anklageseite vorgelegt wurden. Oft würden die Anträge der Seite der Verteidigung durch das Gericht abgewiesen. In der Regel – ohne eine Motivierung. Wobei „nicht nur die Anträge zwecks Befragung von Zeugen der Verteidigung abgelehnt werden, sondern auch die Anträge auf Vornahme bzw. Erstellung zusätzlicher Expertisen, Befragungen von Experten und Spezialisten usw.“.

Der zu analysierende Fall sei auch dadurch bemerkenswert, betonte Alexej Dobrynin im Gespräch mit der „NG“, dass sich in der letzten Zeit die Praxis der Einleitung oder Wiederaufnahme von Untersuchungen von Strafrechtsfällen auf der Grundlage von Aussagen, die angeblich Personen gemacht haben, die sich in Strafvollzugseinrichtungen befinden, ausgedehnt habe. „Wenn die russischen Gerichte auch weiterhin der Seite der Verteidigung Gehör schenken und darauf beharren werden, dass das Erscheinen solcher Personen zur gerichtlichen Untersuchung die Anwälte gewährleisten müssen, kann sich dies negativ auf das Schicksal der Mandanten auswirken. Und in diesem Sinne sieht die Position des EGMR, der zufolge das Gericht in einer derartigen Situation der Verteidigung Unterstützung gewähren muss, nicht nur mehr als ausgewogen aus. Sie ist eine absolut adäquate“, unterstrich der Experte.

Es muss betont werden, dass der breite Einsatz von Informationstechnologien, die Nutzung von Videokonferenz-Verbindungen in vielen Fällen die Organisierung der Befragung solch eines Zeugens für das Gericht zu einer relativ leichten und nicht arbeitsaufwendigen macht.

Die Partnerin des juristischen „Legal-Büros“ Tatjana Sawjalowa, aber bezeichnete die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes als eine einseitige. Sie ist der Auffassung, dass es um eine unzureichende Arbeit des Anwalts gehe, der „nicht alle Möglichkeiten ausgenutzt hatte“ und „lediglich erklärte, dass durch das Gericht die Rechte seiner Antragstellerin verletzt wurden“.

  1. S. der Redaktion „NG Deutschland“

Inwieweit die Position von Tatjana Sawjalowa von der Mehrheit der russischen Anwälte geteilt wird oder nicht, ist schwer einzuschätzen. Doch dass Verteidiger oft mit ihren Anträgen von den jeweiligen Richtern ignoriert werden, ist eine unbestrittene Tatsache. Besonders deutlich wurde dies wieder in der jüngsten Zeit während der Gerichtsverhandlungen gegen den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Folglich ist damit zu rechnen, dass sich der EGMR auch dessen Fällen annehmen wird.