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Syphilis-, HIV- und Tbc-Tests schrecken Investoren von Russland ab


Die Einführung regelmäßiger medizinischer Untersuchungen in Bezug auf Syphilis, HIV und Tbc in der Russischen Föderation haben den Exodus des europäischen Business aus Russland beschleunigt, der sofort nach Beginn der ukrainischen Krise begonnen hatte. In diesen Jahren habe sich die Anzahl deutscher Firmen um 40 Prozent verringert. Und ein großer Teil der verbliebenen könne die Evakuierung vom russischen Markt beschleunigen, warnt man in der bundesdeutschen Handelskammer. Die Ursache liegt in der möglichen Verstärkung der antirussischen Sanktionen und in den neuen medizinischen Regelungen zur Ermittlung von Geschlechtskrankheiten nicht nur unter den Migranten aus Asien, sondern auch unter den Wirtschaftsmanagern aus Europa. Experten der „NG“ erinnern daran, dass der Prozess des Exodus des ausländischen Business aus der Russischen Föderation bereits nach der globalen Finanzkrise von 2008/2009 begonnen hätte. Die deutsche Wirtschaft gilt als eine, die am besten an die russische Wirklichkeit angepasst sei. Die daktyloskopische Erfassung und medizinischen Kommissionen dürften nicht zu einem ernsthaften Grund für den Exodus von Wirtschaftsvertretern werden, denn analoge Regeln würden in vielen Ländern gelten, sagen sie. Freilich, die europäischen Wirtschaftsmanager erklären, dass gerade die inadäquaten Maßnahmen für eine sanitärhygienische Kontrolle seien für sie zum letzten Tropfen geworden, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Im Jahr 2011 waren in Russland 6.300 Unternehmen mit deutschem Kapital tätig. Heute sind davon 3.600 geblieben, ermittelte man in der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer. Das heißt: In den letzten zehn Jahren haben rund 42 Prozent der deutschen Firmen die Russische Föderation verlassen. Allein im vergangenen Jahr hat sich deren Anzahl um acht Prozent verringert. Die Kammer warnte vor der Gefahr eines „Massenexodus“ deutscher Firmen vom russischen Markt.

Als Hauptursachen für das Weggehen nennt die deutsche Wirtschaft die Gefahr eines Ausuferns der Krise rund um die Ukraine in einen großen Militärkonflikt und die Gefahr der Verhängung neuer antirussischer Sanktionen durch den Westen. Zur Ukraine- und Sanktionsthematik war Ende Dezember noch ein die ausländischen Investoren beunruhigender Faktor hinzugekommen: In Russland hatte man ein Gesetz angenommen, dem entsprechend ab März dieses Jahres die ausländischen Bürger, die länger als drei Monate in der Russischen Föderation bleiben wollen, Fingerabdrücke abgeben und regelmäßig medizinische Tests durchlaufen müssen. Einige europäische und amerikanische Business-Vereinigungen sind gegen dieses Gesetz aufgetreten, dass verpflichtet, sich auf Tuberkulose, Lepra, Syphilis, HIV sowie Drogengenuss untersuchen zu lassen.

„Die Furcht vor einem Krieg aufgrund der Krise rund um die Ukraine, die Gefahr neuer Sanktionen und die diskriminierenden obligatorischen Tests für Topmanager und Ingenieure stellen ernste Risiken dar und lösen Unmut aus“, erklärte Matthias Schepp, Leiter Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer.

Die Offiziellen der Russischen Föderation scheinen dabei keine Probleme in einer Verringerung der Zahl ausländischer Unternehmen, die in Russland tätig sind, zu sehen. Bei einem jüngsten Online-Treffen mit Spitzenkräften führender italienischer Unternehmen versprach Präsident Wladimir Putin den ausländischen Investoren maximal komfortable Bedingungen (in Russland sind rund 500 italienische Business-Strukturen in unterschiedlichsten Branchen tätig). Er betonte, dass die Geschäftskontakte aufgrund der Coronavirus-Pandemie erschwert wurden. Und die Situation in der globalen Wirtschaft bezeichnete er als eine „volatile“, betonte jedoch, dass im Verlauf von elf Monaten des vergangenen Jahres der bilaterale Handel (zwischen Russland und Italien – „NG“) um 53 Prozent bis auf 27,5 Milliarden Dollar gewachsen sei.

Laut Angaben des russischen Statistikamtes Rosstat machte im Zeitraum Januar-November des Jahres 2021 der Außenhandelsumsatz Russlands 709,9 Milliarden Dollar aus (eine Zunahme um 38,6 Prozent gegenüber dem Zeitraum Januar-November des Jahres 2020). Auf den Anteil der Europäischen Union entfielen 251,2 Milliarden Dollar (eine Zunahme um 45,6 Prozent), unter anderem auf Deutschland – 51,5 Milliarden Dollar (um 37,3 Prozent). Die Niederlande wurden hinsichtlich des Warenumsatzes der zweitgrößte Partner der Russischen Föderation mit 41,8 Milliarden Dollar. Die östliche (asiatische) Richtung liegt bisher zurück. Der Handelsumsatz mit den ASEAN-Ländern machte 234,2 Milliarden Dollar aus (hier betrug die Zunahme gleichfalls 35,4 Prozent). Dabei entfielen auf China 126,1 Milliarden Dollar (beim jüngsten Treffen von Wladimir Putin mit Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping aus Anlass der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking wurde eine Zahl von 140 Milliarden Dollar entsprechend den Jahresergebnissen genannt).

Die Befürchtungen der deutschen Unternehmen hinsichtlich einer Umorientierung Russlands auf den Osten (Asien) hatten sich bereits im Jahr 2016 erheblich verringert. Die deutsche Wirtschaft erwartet keine Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der EU, erklärten damals die Vertreter der Auslandshandelskammer. Nur 15 Prozent der 152 befragten deutschen Unternehmen vertraten die Auffassung, dass Russland die Zusammenarbeit mit China entwickeln werde, während im Jahr 2015 fast 50 Prozent der Befragten solch eine Antwort gegeben hatten.

Ihre Befürchtungen hinsichtlich der Perspektiven in Russland werden Vertreter der deutschen Unternehmergemeinschaft in der nächsten Zeit, wie erwartet wird, Präsident Wladimir Putin persönlich bekunden. Zumindest erklärte man im Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft, der bundesdeutsche Unternehmen in Osteuropa und im postsowjetischen Raum vereint, dass sich ein Treffen Anfang März in Vorbereitung befinde. Allerdings hat das Big Business, mit dem die Offiziellen gewöhnlich kommunizieren, weniger Probleme als der Mittelstand, der vor allem auch die Vertretungen in den schweren Zeiten schließen.

In Russland befasst man sich auf der Ebene des Regierungschefs Michail Mischustin und des Wirtschaftsministers Maxim Reschetnikow mit dem ausländischen Business im Rahmen des Konsultativrates für ausländische Investitionen (KRAI), der seit 1994 tätig ist und 53 ausländische Großunternehmen aus 18 Ländern vereint. Ihr Gesamtvolumen an Investitionen in der russischen Wirtschaft übersteigt 185 Milliarden Dollar, wird auf der Internetseite des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung ausgewiesen. Die letzte Tagung des KRAI fand im Oktober letzten Jahres statt. Damals wurde betont, dass der Gesamtumfang der ausländischen Investitionen für die russische Wirtschaft im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres elf Milliarden Dollar ausgemacht hatte.

Reschetnikow sagte, dass sich qualitativ der Charakter des Dialogs zwischen Russland und den ausländischen Unternehmen verändert habe. „Noch vor sieben, zehn Jahren hatten wir im Rahmen des KRAI Fragen der Steuerpolitik und Fragen, wie man in Russland arbeiten könne, erörtert. Jetzt rückt eine Agenda in den Vordergrund, die mit der Registrierung von Eigentumsrechten, der Realisierung einer „grünen“ Finanzierung, der Gewährleistung der Energiewende zusammenhängt. Aber auch Fragen einer Überarbeitung der Zoll- und Tarifpolitik aus der Sicht der Einfuhr von Bauteilen und des Exports von Fertigerzeugnissen aus Russland“, sagte der Minister.

Alle erklärten Gründe – angefangen mit der Ukraine bis zu den Sanktionen und einer Überprüfung bei der Einreise – sind für die Russische Föderation keine neuen. Daher sind sie wohl kaum zur Ursache einer weiteren Verringerung der Anzahl ausländischer Unternehmen in der Russischen Föderation im Jahr 2021 geworden, erklärte der „NG“ Artjom Tusow, aus dem Investitionsunternehmen „Univer Capital“. „Und die Wirtschaftskrise vor dem Hintergrund der Pandemie hat der Wirtschaft sowohl für russischen als auch für die deutschen Unternehmen zugesetzt. Für eine Bewahrung des Business muss man sich einschränken, muss man einige Richtungen, darunter auch in der Russischen Föderation aufgeben. Außerdem war das ausländische Kapital froh gewesen, in der Russischen Föderation zu arbeiten, als es schon einen Markt gab, aber es noch keine Gesetze gegeben hatte. Da konnte man Supergewinnen erzielen. Nunmehr ist diese Zeit vorbei. Die Rentabilität des Business verringert sich, da die Russische Föderation schrittweise in den Kreis der wirtschaftlich entwickelten Länder zurückkehrt. Aufgetaucht ist langfristiges Großkapital einheimischer Herkunft. Und die Unternehmer aus Deutschland sehen möglicherweise schon keinen wirtschaftlichen Sinn, weiter in der Russischen Föderation zu arbeiten“, meint Tusow.

Die westlichen Großunternehmen suchen noch irgendwie Varianten, um den antirussischen Sanktionen zu widerstehen, doch die mittelständischen gehen unter ihrem Druck, sagte der „NG“ der Politologe Andrej Susdalzew. „Es wirken sich auch das schwache Wachstum der russischen Wirtschaft und das geringe Wachstumstempo der Bevölkerungseinkommen aus. Nach dem Jahr 2014 wurde im Ergebnis unserer Gegensanktionen den Unternehmen ein starker Schlag versetzt, die sich mit direkten Warenlieferungen aus Deutschland befasst hatten. Dabei ging es vor allem um Lebensmittelprodukte aus dem Premium-Segment, die man nicht mit weißrussischen Etiketten maskieren kann“, sagt er.

Mit der Entwicklung der russischen Wirtschaft verringert sich die Präsenz westlicher Infrastruktur-Unternehmen bei uns. Deren Anzahl verringerte sich unter den Vermittlern bei Investitionen, im Consulting- und Logistik-Bereich, fährt der Experte fort. „Dieser Prozess hat lange vor den Krim-Ereignissen begonnen. Die Ära des spekulativen Kapitals begann bei uns in den 2010er Jahren aufzuhören. Deshalb fing das Abenteuerkapital, das im Banken- und Finanz-Bereich sowie an der Effektenbörse präsent gewesen war, das Land zu verlassen“, erläutert er.

Eine besondere „Wende gen Osten“ sei bisher nicht zu beobachten, meint Susdalzew. „Wir bemühen uns, in Deutschland High-Tech-Erzeugnisse des Investitionszyklus für die Produktion zu erwerben. In solchen Bereichen ist es zu keinem „Schrumpfen“ des ausländischen Business gekommen. Die Schlüsselunternehmen in der Art des Unternehmens SIEMENS, das bereits 200 Jahre auf unserem Markt tätig ist, bewahren die Positionen“, sagt er. Wobei Susdalzew meint, dass gerade die deutschen Unternehmen zu den ersten werden, die schnell zurückkehren und drastisch die Präsenz in der Russischen Föderation verstärken werden, wenn unser Land zu einem hohen Entwicklungstempo des BIP (von fünf bis sechs Prozent) und zu entsprechend hohen Bevölkerungseinkommen zurückkehren kann.

Mit Quarantäne- und medizinischen Maßnahmen für die Ausländer vertreiben wir die ausländische Wirtschaft nicht aus der Russischen Föderation, meint Susdalzew. „Bei uns sind die Bedingungen nicht schlechter als in anderen Ländern Eurasiens. Es gibt keinerlei speziellen Maßnahmen zur Verdrängung ausländischer Unternehmen aus der Russischen Föderation. Die daktyloskopische Erfassung, medizinische Bescheide – all diese Maßnahmen kopieren wir nur“, erklärt der Experte, ohne konkrete Länder zu nennen. „Man hat sich einfach daran gewöhnt, sich uns gegenüber wie zu einer Kolonie zu verhalten. Das heißt: Hinsichtlich unserer Wirtschaft gibt es jegliche Restriktionen. Aber sobald wir einen gleichen Schritt als Antwort unternehmen, löst dies Unverständnis aus. Wie wagten es diese Ureinwohner, die auch noch den Kalten Krieg verloren haben, so zu antworten“, unterstellt Susdalzew den westlichen Wirtschaftsvertretern.