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Szenarios für Russlands Zukunft nach Stephen Kotkin


Ausgabe des Magazins „Foreign Affairs“ ist ein konzeptueller Beitrag des US-amerikanischen Professors Stephen Kotkin unter der Überschrift „The Five Futures of Russia. And How America Can Prepare for Whatever Comes Next” (https://www.foreignaffairs.com/russian-federation/five-futures-russia-stephen-kotkin) veröffentlicht worden.

Kotkin, dessen vierbändige Arbeit über Stalin immer noch als eine Neuheit in Moskau verkauft wird, hält sich augenscheinlich für den größten Spezialisten für Russland und dessen Spitzenvertreter. Dadurch werden die ständige Vergleiche Putins mit Stalin bedingt. Dies erlaubt Kotkin freilich nicht, genau auf die durch ihn selbst gestellte Frage zu antworten: Worin bestehen denn die Wurzeln des Autoritarismus Putins?

Kotkin behauptet, dass Putin heute ein Eisbrecher sei, der die internationale Ordnung mit den USA an der Spitze in kleine Stückchen zerbröckle. Putin handele im Namen jenes Teils der Menschheit, der „nicht die goldene Milliarde“ darstelle.

Putin versetzte die USA und deren Verbündete in Libyen, Syrien, in der Ukraine und Zentralafrika in Erstaunen. Kotkin stellt sich die Frage, was man von Russland in der langfristigen Perspektive, außerhalb des Lebens der heutigen Spitzenvertreter des Landes erwarten könne. Die Antwort auf diese Frage sei wichtig, um nicht überrascht zu werden. Anders gesagt: Kann man einen „schwarzen Schwan“ (bzw. Trauerschwan, Metapher für unerwartete und unwahrscheinliche zukünftige Ereignisse mit erheblichen Auswirkungen – Anmerkung der Redaktion) russischer Herkunft vermeiden?

Kotkin ist davon überzeugt, dass sich Washington die Hauptlehre der letzten Jahrzehnte angeeignet habe. Es habe keine Hebel für eine Beeinflussung der Transformation solcher Länder wie China und Russland. Diese Länder seien mit einem Selbstbewusstsein von Imperien, seine Zivilisationen, die weitaus früher als die USA und der Westen als solcher entstanden sind.

Entsprechend der Metapher des amerikanischen Forschers würden Moskau und Peking nicht der Heldin aus dem George-Bernhard-Shaw-Stück „Pygmalion“, Eliza Doolittle, die aus einer Blumenverkäuferin zu einer Lady verwandelt werden sollte, ähnlich sein. Anders gesagt, sie sind nicht jene, die im Interesse des internationalen Systems unter Führung der USA ihre autoritären, imperialistischen Regime umgestalten werden, um verantwortungsvolle Stake-Holder der internationalen Beziehungen zu werden. Weiter verweist der 65jährige Autor darauf, dass die Vereinigten Staaten die eigene Fähigkeit, den Verlauf der Veränderungen in Russland zu bestimmen, nicht überbewerten sollten. Die USA müssten zu jeglicher Realität bereit sein.

Kotkin unterbreitet fünf unterschiedliche Varianten für Umgestaltungen Russlands als ein mögliches Entwicklungsszenario, damit der Westen vorab ein Spektrum von Handlungen für eine effektive Politik ausarbeiten könne.

Das erste Szenario: Russland ist wie Frankreich. Frankreich ist ein Land mit bürokratischen und monarchistischen Traditionen, die tiefe Wurzeln haben, die ihrerseits auch revolutionäre Traditionen beinhalten. Darin sieht Kotkin eine Verwandtschaft der politischen Geschichte Frankreichs und Russlands. Die generellen Wesenszüge würden in der Zukunft gewahrt bleiben. Wenn in Russland eine Demokratie mit einer Oberhoheit des Gesetzes und ohne Bedrohungen für die Nachbarn entstehe, werde Russland dem heutigen Frankreich mit allen Komplexen einer Großmacht und eines kulturellen Chauvinismus ähneln.

Das zweite Szenario: eine Verdichtung bzw. Komprimierung Russlands. Viele akzeptieren nicht die Perspektive einer Verwandlung Russlands in ein Frankreich. Für sie ist Russland die Verkörperung eines mystischen Nationalismus, der seine Wurzeln in einem westfeindlichen Charakter, in traditionellen Werten, in einem Slawophilismus und im orthodoxen Christentum hat. Sie brauchen einen Führer, der in allem Putin ähnlich ist, der sich nur durch die Haltung zum Konflikt in der Ukraine unterscheidet.

Die Demografie und die Verringerung der Bevölkerung und der Anzahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter seien das empfindlichste Problem für die Nationalisten. Russland würde spürbar den internationalen Trends bei der Robotisierung und Automatisierung der Produktion hinterherlaufen. Der Exodus von Spezialisten auf dem Gebiet der Informationstechnologien würde die Lösung der ausgewiesenen Probleme nicht fördern.

Die Einfuhr von Technologien, die aus Israel erfolgte, sei nach der Unterstützung Russlands für die HAMAS drastisch zurückgegangen. Es stehe die begründete Frage: Wie lange wird Russland dem Westen Paroli bieten, ohne in eine erniedrigende Abhängigkeit von China zu geraten?

Das dritte Szenario: Russland – ein Vasall. Kotkin betont, dass die beispiellose Zunahme der russisch-chinesischen Kontakte ausschließlich durch die herzlichen und vertrauensvollen Beziehungen zwischen Putin und Xi Jinping verursacht worden sei. Sie haben sich 42mal getroffen und bezeichnen einander „mein bester Freund“. Insgesamt ist Russlands Bevölkerung eine europäische, weniger sprechen Chinesisch, viele – Englisch.

China hütet sich, in irgendeine Abhängigkeit von Russland zu geraten. Gerade damit ist der Unwille Chinas zu erklären, ein neues Gas-Abkommen mit einem Transit durch die Mongolei zu unterzeichnen (gemeint ist das Projekt der Gaspipeline „Power of Siberia“ – Anmerkung der Redaktion). Parallel erzähle man in Russland der Bevölkerung immer häufiger von Alexander Newskij, betont Kotkin, der die Goldene Horde und nicht die Teutonen-Ritter ausgewählt hätte, um sich nicht dem Heiligen Stuhl zu unterwerfen. Die Bewahrung der christlich-orthodoxen Identität dank dem Joch der Goldenen Horde wird als eine unbedingte Wohltat im Vergleich zu einer Unterwerfung unter den Westen ausgegeben.

So wird unterschwellig die Idee von einer vernünftigen Zweckmäßigkeit des Niederbrennens der Brücken mit dem Westen zugunsten einer Abhängigkeit von China propagiert.

Das vierte Szenario: Russland ist wie Nordkorea.

Wenn man ehrlich sein will, so halten die Überlegungen von Kotkin über solch eine Entwicklungsvariante keiner Kritik stand und verdienen kein Nacherzählen im Zusammenhang mit dem offensichtlichen Umstand, dass die Argumente mehr als schwachbrüstig sind.

Das fünfte Szenario: Russland in einem Chaos. Hier untersucht Stephen Kotkin Bedrohungen für die territoriale Integrität Russlands, wenn ihm gleich mehrere Länder – China, Japan und Finnland – Ansprüche auf historische Territorien vorbringen.

Der Politologe beendet den Beitrag mit Überlegungen hinsichtlich dessen, wie die Politik der USA in Bezug auf Russland am fruchtbarsten ausfallen könne. „Frieden beginnt mit Hilfe einer Kraft, die mit einer Qualitätsdiplomatie verbunden ist“, resümiert der Autor. Er setzt auf militärischen Druck der USA im Verlauf einer technologischen Modernisierung der Waffen der neuen Generation. Man müsse die Möglichkeit von Verhandlungen bewahren, wie auch die Kontakte unterschiedlicher Arten. Und seine Arbeit beendet Kotkin mit dem Verweis darauf, dass zu einer Priorität der nächsten Zeit die Beendigung der Kampfhandlungen zu den Bedingungen von Kiew werden müsse, das heißt: ohne eine juristische Anerkennung des Verlusts von Territorien und mit dem Recht, der NATO, der EU und jeglicher anderen internationalen Organisation beizutreten.

Die Analyse solch eines umfangreichen Textes eines der führenden Russland-Experten überrascht durch das Losgelöstsein von den realen Ursachen des heutigen Konflikts von Russland und dem Westen.

Der Autor nimmt solche objektiven Gründe wie das Ignorieren der inhaltsreichen und zeitlosen strategischen nationalen Interessen Russlands durch Washington nicht zur Kenntnis. Unabhängig davon, wer im Kreml sitzt – Breschnew, Gorbatschow, Jelzin oder Putin. Oder jeglicher andere neue Präsident des Landes.

Und noch ein vom Autor nicht zur Kenntnis genommenes Problem – die „russische Frage“. In einem Jahrhundert, dass durch den Westen vor 25 Jahren zum „Jahrhundert der Minderheiten“ erklärt wurde, nimmt im Westen keiner die Verletzungen der Rechte und Freiheiten der russischen Bürger wahr, die nicht durch ihr Verschulden, sondern aufgrund des Zerfalls der UdSSR zu „Bürgern zweiter Sorte“, zu „Okkupanten“ geworden sind. Kann Russland solch ein Problem außer Acht lassen? Natürlich nicht. Denn es ist die letzte Hoffnung dieser unglücklichen Menschen. Es darf keinerlei Illusionen hinsichtlich dessen geben, dass dieses Thema durch absolut keinen Menschen an der Macht nicht von der Agenda für eine Kontrolle genommen wird — auch nach Putin.

Folgendes sei hervorgehoben: Der Autoritarismus Putin hat seine Wurzeln in einer Reihe objektiver und fundamentaler Faktoren. Dies sind Ressentiments, die nationale Identität und die Sicherheit existenzialistischer Art. Der Background, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier gewesen zu sein, war lediglich ein subjektives Ornament mit seinen Methoden für ein Bedienen des Autoritarismus.

Es ist offensichtlich, dass die autoritären Tendenzen an der Macht mit einer Zerstörung/Aufhebung der grundlegenden Faktoren, die das Bedürfnis nach solch einem Leader wie Putin hervorgebracht hatten, überwunden werden.

Anders zu denken bedeutet, Illusionen, utopische Stimmungen und Erwartungen hinsichtlich der Zeitspanne für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu stimulieren.

Vielleicht sollte Washington als einen Vorwand für Verhandlungen mit Moskau mit der Annahme beginnen, dass Russland irgendwelche eigene nationalen Interessen inkl. eines Schutzes der Russen hat. Wenn aber solch ein Ausgangspunkt als ein unangebrachter aussieht, wird es schwer sein, sich von dem zwanghaften Gedanken zu lösen, dass die heutige Zuspitzung in den Beziehungen Russlands und des Westens durch den Wunsch letzteren verursacht wurde, auf seinem Recht zu bestehen, bewusst die Sicherheitsgarantien auszuhöhlen, ja und selbst die Sicherheit des russländischen/russischen Volkes zu verringern.