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Teures Gas beweist den Europäern die Wichtigkeit von „Nord Stream 2“


Der russische Gaskonzern GAZPROM hat seit vergangenem Samstag das Einspeichern von Gas in die Untergrundgasspeicher (UGS) Europas eingestellt, belegen Angaben des Internetportals Gas Infrastructure Europe. Verringert hat sich das Einspeichern in solche Großspeicher wie Haidach in Österreich, Rehden in Deutschland und Bergermeer in den Niederlanden. Parallel dazu verzichtet GAZPROM auf das Buchen zusätzlicher Transitkapazitäten Polens und der Ukraine. Eine Reihe von Experten ist der Auffassung, dass die russische Holding damit den Europäern die Bedeutsamkeit von „Nord Stream 2“ demonstriere.

Am Wochenende nimmt traditionell das Einspeichern in die europäischen UGS zu, da die Nachfrage seitens der Industrie zurückgeht und zusätzliche Ressourcen für ein Einspeichern von Gas in die entsprechenden Anlagen frei werden.

Nach der Gasausspeicherung aus den russischen UGS in Rekordumfängen (fast 61 Milliarden Kubikmeter) hat GAZPROM jetzt genau solch eine Menge in sie wieder einzuspeichern. Schließlich ist das Auffüllen der russischen UGS eine wichtige Priorität. Der Bedarf für das Einspeichern in die UGS ist in diesem Jahr um 16 Milliarden Kubikmeter größer als im Jahr 2019. Doch der Plan für die Gasförderung für das Jahr 2021 sieht im Bereich des Einheitlichen Gasversorgungssystems nicht mehr, sondern gar etwas weniger als im Jahr 2019 vor.

Verringert haben sich in den letzten Tagen auch die Gaslieferungen nach Europa durch die Gaspipeline Jamal-Europa, die durch Weißrussland und Polen verläuft. Während in den vorangegangenen Tagen am Eingang nach Deutschland Mengen von 84 Millionen Kubikmeter Gas am Tag fixiert wurden, so waren es am Samstag bereits bis zu 50 Millionen Kubikmeter und 60 Millionen Kubikmeter am Sonntag, meldete der deutsche Fernleitungsnetzbetreiber für Erdgas „Gascade“.

Außerdem buchte GAZPROM keine zusätzlichen Kapazitäten für einen Transit durch Polen durch die Gaspipeline Jamal-Europa für die nächsten vier Quartale. Für sie waren verbindliche Transitkapazitäten im Umfang von beinahe 90 Millionen Kubikmeter am Tag angeboten worden.

GAZPROM erhob gleichfalls keine Ansprüche auf zusätzliche Kapazitäten für einen Gastransit durch die Ukraine im vierten Quartal dieses Jahres. Bei einer entsprechenden Auktion war angeboten worden, für dieses Quartal Transitkapazitäten durch die Ukraine in einem Umfang von fast 10 Millionen Kubikmeter Gas am Tag zu buchen. Analoge Umfänge waren für die ersten drei Quartale des nächsten Jahres angeboten worden. Der Konzern hat sich jedoch nicht dafür interessiert.

Ende Juli wurde bekannt, dass die russische Gas-Holding keine weiteren zusätzlichen Kapazitäten für einen Gastransit durch die Ukraine im August buchte. Auf der entsprechenden Auktion am 27. Juli war angeboten worden, für den Folgemonat Kapazitäten für 63,7 Millionen Kubikmeter Gas am Tag zu buchen. Dabei hatte eine Woche zuvor, am 19. Juli GAZPROM bei der Hauptauktion zur Buchung verbindlicher Transitkapazitäten des ukrainischen Gastransportsystems den gesamten angebotenen Umfang von 15 Millionen Kubikmeter am Tag für den Transport von Gas über ukrainisches Territorium erworben.

Vor einem Monat führten der polnische und der ukrainische Betreiber der entsprechenden Gastransportsysteme die Jahresauktionen für das Buchen von Transportkapazitäten durch. Der russische Konzern hatte jedoch damals nicht an ihnen teilgenommen.

Die Situation für die EU wird auch noch dadurch erschwert, dass in der Region Störungen bei den Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG) zu beobachten sind. So bleibt der LNG-Import nach Europa um 20 Prozent geringer als im Jahr zuvor. Nach Schätzungen von Wood Mackenzie (eine globale Forschungs- und Beratungsgruppe für Energie, Chemikalien, erneuerbare Energien, Metalle und Bergbau, die Daten, schriftliche Analysen und Beratungsberatung liefert – Anmerkung der Redaktion) bekommt die EU jede Woche drei Tankerlieferungen weniger als im Vorjahr. Und die Prognosen für die Lieferungen sehen pro Woche eigentlich neun Tankerlieferungen mehr vor. Die gesamten freien LNG-Mengen gehen nach Asien, wo die Notierungen noch höher sind. Auf dem Spot-Markt erreichen sie 539 Dollar für 1000 Kubikmeter Gas, während die Futures für den kommenden Februar bereits im Bereich von beinahe 600 Dollar gehandelt werden.

Die an einen Hype erinnernde Nachfrage und der Mangel treiben die Gaspreise auch auf dem europäischen Markt in die Höhe. In der vergangenen Woche erreichten die Verträge für August, die an den Gaspreis am größten EU-Hub TTF gebunden sind, die 501-Dollar-Marke für 1000 Kubikmeter, womit ein Anstieg von drei Prozent innerhalb eines Tages und um zehn Prozent seit Wochenbeginn demonstriert wurde. Dabei ist das Gas in der EU gegenüber dem Januar um 150 Prozent teurer geworden. Und wenn man einen Vergleich mit den minimalen Werten des vergangenen Sommers anstellt – praktisch um das 4fache.

Ende Juni waren in den europäischen Speichern rund 50 Milliarden Kubikmeter Gas vorhanden, was um 35 Milliarden weniger als im Vorjahr war. Und um 15 Milliarden weniger als der Durchschnittswert für die letzten fünf Jahre. Bei den minimalen Gasreserven seit dem Jahr 2015 riskiere Europa, die Wintersaison mit halbvollen Speichern zu beginnen, was den Preisen eine Stützung verspreche, schreiben Analytiker der Bank ING.

Derweil wird der Bau der „transitfreien“ Gaspipeline „Nord Stream 2“ abgeschlossen. Die Inbetriebnahme der Fernleitung ist bereits in diesem Jahr möglich. Und einige Experten räumen ein, dass die Verringerung der Einspeicherungsmengen irgendwie mit dem Beginn der Nutzung von „Nord Stream 2“ in Verbindung stehe. „Wenn dem so ist, so ist der Zeitpunkt sehr treffend ausgewählt worden. Derzeit schafft es Europa nicht, die notwendigen Gasmengen zu bekommen, um den Winter ruhig zu überstehen. Wahrscheinlich werden die russischen Lieferungen zunehmen, sobald die neue Gaspipeline in Betrieb genommen wird. Außerdem werden für Europa die Zweifel hinsichtlich der Notwendigkeit dieser Fernleitung zwecks Gewährleistung seiner Energiesicherheit wegfallen“, urteilt Artjom Dejew, Leiter des analytischen Departments der Investment-Firma „AMarkets“.

Wenn man aber sich den Zeitraum ab Jahresbeginn anschaut, so ergibt sich, dass GAZPROM den Gasexport nach Europa sogar erhöht hat, erklärt Artjom Tusow, Exekutivdirektor des Departments für Kapitalmärkte des Unternehmens „Univer Capital“. So ist entsprechend den Ergebnissen der ersten sieben Monate dieses Jahres der Export von GAZPROM ins ferne Ausland um 23 Prozent bis auf 115,3 Milliarden Kubikmeter angestiegen. Der Konzern erhöhte unter anderem die Gaslieferungen in die Türkei (um 203,9 Prozent), nach Deutschland (um 42,2 Prozent), Italien (um 16,2 Prozent), nach Rumänien (um 318,3 Prozent), Polen (um 14,6 Prozent), Serbien (um 118,1 Prozent), Bulgarien (um 47 Prozent), Frankreich (um sechs Prozent) und Griechenland (um 18,8 Prozent).

Tusow bezweifelt, dass der GAZPROM-Konzern eine Quelle für den Anstieg der Gaspreise sein könne, da er die Lieferungen forciere. „Der untypisch kalte Winter in Verbindung mit dem untypisch heißen Sommer haben einen Gasmangel in Europa verursacht. Und bis zum April befanden sich aufgrund des erhöhten Verbrauchs die Gasreserven in den europäischen Speichern auf historischen minimalen Werten“, erläutert er.

Nunmehr werden die Gasvorräte vergrößert. Wenn man aber einen Vergleich von Monat zu Monat anstellt, ist diese Zunahme nicht zu sehen, fährt Tusow fort. „Da die Daten des vergangenen Jahres mit einem Überschuss an Gas mit den Daten dieses Jahres verglichen werden. Im Ergebnis dessen hören wir ständig, dass um 20 bis 30 Prozent weniger Gas als im vergangenen Jahr eingespeichert worden sei. Gas wird aber eingespeichert. Und bis zum November werden die Vorräte die notwendigen Umfänge erreichen“, ist sich der Experte sicher.

Politiker befürchten, dass eine volle Auslastung von „Nord Stream 2“ die Transiteinnahmen für Polen und die Ukraine verringern könne, erinnert der Leiter des analytischen Zentrums der Investment-Firma „Alpari“ Alexander Rasuwajew. In Europa würden faktisch zwei Super-Gas-Hubs entstehen – Deutschland und die Türkei. „Das geopolitische Gewicht der Türkei und Deutschlands wird im Ergebnis der Veränderung der Gasströme erheblich zunehmen, und das der Ukraine und Polens wird sich verringern“, prognostiziert der Experte.

Es gibt aber auch rein wirtschaftliche Faktoren. Die europäische Gasbilanz ist derzeit wirklich eine defizitäre. „Die Aufgabe der Wiederherstellung der Gasvorräte nach dem kalten Winter erschwert der Mangel an LNG auf dem Weltmarkt. Die Preise auf dem europäischen Markt haben bereits die 500 Dollar überschritten. Das derzeitige Jahr ist jedoch eine Zeit von Wetteranomalien. Und wenn, wie einige Experten voraussagen, Europa ein ungewöhnlich kalter Winter erwartet, so kann der Spotpreis für Gas 600 Dollar (je 1000 Kubikmeter) erreichen. Die Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“ kann nur leicht die Preise abkühlen“, urteilt Rasuwajew.

Der durch die Aufmerksamkeit der Gaslieferanten verwöhnte Markt der EU unterliege im Konkurrenzkampf ernsthaft den Ländern Südostasiens hinsichtlich der LNG-Einkäufe, fährt der offizielle Vertreter des Projekts „Humanity“ Andrej Loboda fort. „In Asien ist Gas heute um beinahe 15 bis 20 Prozent teurer. Und während die EU-Politiker die Regeln für die Kohlenwasserstoff-Regulierung lockern, hat, wie wir sehen, gegenwärtig die wirtschaftliche Attraktivität der Märkte der Ländern Asiens den europäischen übertroffen“, unterstreicht er. „Heute kann nur die Aufnahme kommerzielle Lieferungen durch „Nord Stream 2“ die Energiesicherheit der EU gewährleisten“, meint der Experte.