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Tichanowskaja lässt den Westen Lukaschenko nicht vergessen


Diese Woche wird Swetlana Tichanowskaja in den USA verbringen. Bisher ist nur ein Teil ihres Programms veröffentlicht worden. Und ein Treffen mit dem US-Präsidenten kommt in ihm nicht vor. Experten schließen jedoch solch eine Möglichkeit nicht aus und vermuten, dass dies die Annahme eines neuen Pakets amerikanischer Sanktionen gegen das weißrussische Regime beschleunigen werde.

Der USA-Besuch von Swetlana Tichanowskaja hat am Sonntag, dem 18. Juli begonnen. Gleich nach der Landung empfing sie Julie D. Fisher, die neu ernannte Botschafterin der USA in Weißrussland, die aber nach wie vor nicht in Minsk angekommen ist. Laut Informationen des Pressedienstes von Swetlana Tichanowskaja traf sie sich am ersten Tag ihres Aufenthaltes mit Vertretern der weißrussischen Diaspora. Am Montag sollen Treffen im State Department stattfinden, am Dienstag – im White House. In der ersten Wochenhälfte wird Tichanowskaja auch am feierlichen Beginn der Arbeit einer Gruppe von Kongressvertretern teilnehmen, die sich ausschließlich mit der weißrussischen Problematik befassen werden (in Amerika wird solch ein Zusammentreffen als Caucus — eine Versammlung der Mitglieder und Anhänger einer Partei oder politischen Gruppierung vor einem offiziellen Zusammenkommen – bezeichnet). „Dies ist der erste Fall in der Geschichte von Belarus, in dem die USA den Weißrussen solch eine Unterstützung gewähren“, betont der Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja. Auf den Plänen stehen Begegnungen mit Senatoren – Mitgliedern des US-Repräsentantenhauses von der Demokratischen und der Republikanischen Partei, mit der Chefin der amerikanischen Agentur für internationale Hilfe USAID Samantha Power sowie Interviews für führende internationale Medien — CNN, MSNBC, Foreign Policy, National Interest, Voice of America -, aber auch ein Treffen mit der Redaktion der „Washington Post“.

„Das Besuchsprogramm Tichanowskajas für die zweite Wochenhälfte wird in den nächsten Tagen veröffentlicht werden“, teilt neugierig machend der Pressedienst von Swetlana Tichanowskaja mit. Das Haupträtsel des Besuchs ist – wird es zu einem Treffen von US-Präsident Joseph Biden mit Swetlana Tichanowskaja kommen. Am Vorabend war mitgeteilt worden, dass Kongressmänner Anstrengungen unternehmen würden, um solch eine Begegnung zu organisieren. Auch erschien in der „Washington Post“ ein Redaktionsbeitrag, in dem behauptet wird, dass sich „Herr Biden mit Swetlana Tichanowskaja treffen soll, die mit einer überwältigenden Stimmenmehrheit bei den Präsidentschaftswahlen im August vergangenen Jahres in Belarus gewonnen hatte“. „Sie repräsentiert alles, was die Vereinigten Staaten und Mr. Biden schätzen: ein vom ganzen Volk gewählter Leader, eine Kämpferin für Demokratie und die Hoheit des Gesetzes und der Zivilgesellschaft, die mutig gegen die Diktatur in Europa aufgetreten ist“, betont das Blatt. Die Begegnung müsse stattfinden, „um dem Volk von Belarus und der ganzen Welt zu demonstrieren, dass die Vereinigten Staaten bereit sind, die Demokratie zu verteidigen und Autokraten nicht nur in Pressemitteilungen Widerstand zu leisten“, schreibt die „Washington Post“.

„Dass solch ein Insider-Medium wie die „Washington Post“ solche Sachen publiziert, spricht über Vieles“, meint der unabhängige Analytiker Sergej Tschalyj. „Wenn das Treffen stattfinden würde, wäre dies ein gewaltiger außenpolitischer Durchbruch“, erklärte er in einem Interview für den Hörfunksender Euroradio. Der Experte ist der Auffassung, dass die Hauptaufgabe von Swetlana Tichanowskaja die Arbeit mit der internationalen öffentlichen Meinung sei. Und angesichts dessen, dass sie die Fähigkeit besitzt, den Gesprächspartner durch ihre Aufrichtigkeit zu gewinnen, könnte dies seine Rolle auch bei einer Begegnung mit dem amerikanischen Präsidenten spielen.

In einem Kommentar für die „NG“ unterstrich der Politologe Valerij Karbalewitsch gleichfalls, dass die Hauptaufgabe von Swetlana Tichanowskaja, die bereits alle führenden Staaten der Welt besucht hat, sei, „das weißrussische Thema zu pushen und der weißrussischen Frage nicht zu erlauben, sich auf globaler Ebene zu verlieren“. „Die Politiker des Westens haben viele andere Probleme. Und wenn es keine Faktoren und Ursachen geben würde, die ständig daran erinnern würden, was sich in Belarus ereignet, so hätte man dies still und leise vergessen. Im Grunde genommen hatte man es auch schon nach dem Herbst zu vergessen begonnen, wenn sich nicht diese Geschichte mit dem Flugzeug ereignet hätte (die erzwungene Landung eines Jets der Fluggesellschaft Ryanair in Minsk, um den Blogger Roman Protasewitsch von dessen Bord zu nehmen – „NG“)“, betonte Valerij Karbalewitsch.

Es sei daran erinnert, dass am Vorabend des USA-Besuchs von Swetlana Tichanowskaja die Behörden Weißrusslands am 16. Juli im Rahmen der Säuberung des Informationsfeldes die weißrussische Redaktion von Radio Liberty vernichteten: Aufgebrochen wurden Türen, die gesamte Technik weggebracht, die Netze gekappt und Videobeobachtungskameras demontiert. Hausdurchsuchungen erfolgten bei vielen Mitarbeitern. Man brachte sie zu Verhören, in deren Ergebnis zwei Journalisten hinter Gittern blieben. Nach Meinung von Valerij Karbalewitsch „verleiht dies der Situation ein zusätzliches politisches Gewicht“. „In Verbindung mit diesen Faktoren denke ich, dass man durchaus versuchen kann, das weißrussische Thema in der amerikanischen Tagesordnung auf eine etwas höhere Ebene zu bringen“, erklärte der Experte. Er schließt unter anderem die Annahme eines neuen Pakets amerikanischer Sanktionen nicht aus. Zuvor hatte solch eine Möglichkeit die stellvertretende US-Außenministerin für politische Fragen Victoria Nuland signalisiert, als sie am 17. Juni beim Forum GLOBSEC-2021 in Bratislava auftrat. „Es ist durchaus möglich, dass diese beiden Ereignisse – sowohl der Tichanowskaja-Besuch als auch die Zerschlagung von Radio Liberty – die Annahme dieser neuen Sanktionen beschleunigen können“, sagte der „NG“ Valerij Karbalewitsch.

Analytiker schauen unterschiedlich auf die Perspektiven für eine Lösung der weißrussischen Krise und des Konflikts mit dem Westen sowie die Rolle der Sanktionen in diesem Prozess. Igor Tyschkewitsch prognostiziert unter anderem, dass näher zum Jahresende hin ein Handel mit politischen Häftlingen beginnen könne, während Valerij Karbalewitsch davon überzeugt ist, dass die Repressalien nicht aufhören und eine Liberalisierung beginnen würden, solange Alexander Lukaschenko an der Macht sein werde. „Der einzige Weg zu einem Stoppen der Repressalien ist ein Machttransit. Der Machtantritt eines neuen Menschen. Er wird gezwungen sein, all diese Verschüttungen zu beseitigen, die Lukaschenko verursachte. Darunter auch die politischen Häftlinge freizulassen“, meint der Experte.

Selbst wenn die Sanktionen keinen direkten Einfluss hätten und keine Beendigung der Repressalien und eine Freilassung der politischen Häftlinge fördern würden, gebe es dennoch ihren mittelbaren Einfluss auf die gesamte Situation, meint Valerij Karbalewitsch. „Nicht zufällig klang bei den Verhandlungen Lukaschenkos mit Putin offiziell die Frage nach Hilfe Russlands zur Überwindung der Sanktionen an. Folglich wirkt dies“, denkt der Experte.

Valerij Karbalewitsch bekundete gegenüber der „NG“ die Vermutung, dass es in den nächsten zwei Jahren in Weißrussland zu einem Machttransit kommen und Alexander Lukaschenko das Präsidentenamt verlassen werde. Solch eine Schlussfolgerung zog der Experte nach dem Studium des Wortlauts des Verfassungsentwurfs, den die weißrussischen Offiziellen entsprechend den Ergebnissen eines Referendums, das für Anfang kommenden Jahres anberaumt wird, verabschieden wollen. „Ich dachte, dass Lukaschenko für sich irgendeinen Posten in Gestalt des Vorsitzenden des Präsidiums der Gesamtweißrussischen (Volks-) Versammlung belässt und sehr wichtige Vollmachten an dieses Amt übergeben werden. Aber im Entwurf sind diese Vollmachten vage und verwaschen. Reale Vollmachten werden, auch wenn sie im Vergleich zu den gegenwärtigen verringert werden, beim Präsidenten und beim Parlament sein. Dies bedeutet, dass man wirklich einen Machttransit erwarten kann. Man kann erwarten, dass Lukaschenko gänzlich abtritt oder solch eine unbedeutende Funktion einnehmen wird, in der er wohl kaum solche Vollmachten eines alleinigen Diktators wie derzeit haben wird“, vermutete der Experte. Nach seiner Meinung sei solch eine Entwicklung der Ereignisse das Ergebnis nicht irgendeiner einzigen Handlung, sondern deren Komplex – sowohl der großangelegten Proteste des vergangenen Jahres als auch der Ausprägung einer internationalen öffentlichen Meinung, sowohl der Sanktionen als auch der Geschichte mit dem (Ryanair-) Flugzeug und des Einflusses von Russland, für das all diese Ereignisse in Weißrussland nicht die beste Variante seien.