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Tichanowskaja-Stab will Proteste in Weißrussland neustarten


ie Anführerin der weißrussischen Protestierenden, die ehemalige Kandidatin für das Amt des Präsidenten Weißrusslands, Swetlana Tichanowskaja, bildet ein Situations- und analytisches Zentrum. Es wird die Aktionen der Protestierenden koordinieren. Die Opponenten von Alexander Lukaschenko rechnen mit einer Zunahme der Aktivitäten im Frühjahr und einen baldigen Sieg.

Das Situations- und analytische Zentrum wird auf der Basis der Initiative BYPOL gebildet, die ehemalige Vertreter der Rechtsschutz- und bewaffneten Organe vereint. Geleitet wird sie von dem stellvertretenden Kommandeur einer Kampfgruppe der Sondereinheit „Almaz“ („Diamant“) des weißrussischen Innenministeriums, Igor Makar. Diese Initiative von Opponenten Alexander Lukaschenkos bezeichnen Experten als die ergebnisreichste. Gerade BYPOL veröffentlichte spektakuläre und ein großes Echo auslösende Audioaufnahmen von Gesprächen durch Vertreter der Rechtsschutz- und der bewaffneten Organe, deren interne Dokumente und führte eine Untersuchung der Umstände des Todes des 31jährigen Roman Bondarenko durch und publizierte deren Ergebnisse. Gerade dank BYPOL erfuhr die Öffentlichkeit von den Plänen der Herrschenden, spezielle Lager für die Gegner des Regimes einzurichten. Darüber sprach in einer veröffentlichten Audioaufnahme ein Mann, dessen Stimme der Stimme des gegenwärtigen Vizeinnenministers und Ex-Chefs der Hauptverwaltung für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Korruption Nikolaj Karpenkow ähnelt. Auf eben dieser Audioaufnahme berichtet er auch über die Umstände der Ermordung von Alexander Taraikowskij (wurde aus nächster Nähe durch gezieltes Feuer getötet) und darüber, dass die Vertreter der Rechtsschutz- und der bewaffneten Organe freie Hand für die Vernichtung „unnötiger Menschen“ erhalten hätten.

„Die Arbeit von BYPOL hat den Weißrussen bereits geholfen zu erfahren, dass es unter den Menschen, die Uniformen tragen, genug Patrioten gibt. Sie wollen — wie wir alle auch — die Gesetzlichkeit in unserem Land wiederherstellen. Und jetzt, da die Weißrussen die Protestaktivitäten forcieren, beauftrage ich BYPOL ein Situations- und analytisches Zentrum zu schaffen. Sein Ziel ist es, die Handlungen der Aktivisten zu koordinieren und die Effektivität unseres Kampfes um unsere Rechte und Freiheiten zu erhöhen. Ich glaube, dass dieser Schritt uns allen helfen wird, den lange erwarteten Sieg zu erringen“, erklärte Swetlana Tichanowskaja hinsichtlich der Bildung des Zentrums. Wie auch einer Mitteilung ihres Pressezentrums folgt, werde sich das Zentrum mit der Sammlung und Analyse operativ relevanter Informationen, darunter über die Protestaktivitäten in Weißrussland sowie mit einer Koordinierung der Handlungen der aktiven Gruppen, Initiativen und Organisationen befassen und die Aktivisten „zwecks Gewährleistung ihrer Sicherheit“ konsultieren und unterstützen. Zu seinen Kompetenzen werden gleichfalls eine „strategische Planung und Entwicklung taktischer Handlungen zur Wiederherstellung der Gesetze und Rechtsordnung in Weißrussland, die Gewinnung und das Zusammenwirken mit aktiven Mitarbeitern der Rechtsschutzorgane und der bewaffneten Strukturen sowie die Neutralisierung von Gefahren für die Unabhängigkeit der Republik“ gehören.

Es sei daran erinnert, dass sich alle Anführer der weißrussischen Proteste entweder im Ausland oder in Gefängnissen befinden, die Massenaktionen eingestellt wurden, und das Land in Repressalien versunken ist. „Die Proteste sind minimiert worden. Sie erfolgen in Form von irgendwelchen Partisanen-Flashmobs, in einzelnen Höfen oder in einem Wald irgendwo am Stadtrand. Wenn Fotos veröffentlicht werden, so sind dort die Menschen mit vermummten oder geschwärzten Gesichtern, damit man sie nicht erkennt“, charakterisierte der Politologe Valerij Karbalewitsch die Situation in Weißrussland gegenüber der „NG“. „Die Offiziellen werden die Repressalien fortsetzen, wobei sie versuchen, den politischen Raum von den Opponenten zu säubern. Ständig, jeden Tag erfolgen Festnahmen, Durchsuchungen, Gerichtsverhandlungen, werden Änderungen an der Gesetzgebung vorbereitet. Man verhaftet sogar aufgrund des Lesens der Bücher von Klassikern der weißrussischen Literatur, die in den Schul-Literatursammlungen enthalten sind“, berichtete der Experte. Seinen Worten zufolge „erlangen die Repressalien immer merkwürdigere, altersschwache Formen. Beispielsweise hat man den Ruf „Es lebe Belarus“, im Gericht der Stadt Smorgon als Rowdytum gewertet und ein Strafverfahren eingeleitet. Wäsche zum Trocknen auf dem Balkon wird als ein Zeichen von Opposition gewertet. „Darin gibt es etwas von Kafka oder von Orwell. Augenscheinlich erlangt dieser Katzenjammer nach einem schweren Stress solche merkwürdigen Formen“, vermutete der Gesprächspartner der „NG“.

Die Verringerung der Protestaktivitäten in dieser Situation halten viele Analytiker für einen natürlichen Prozess. Selbst wenn die Menschen mit den Herrschenden nicht einverstanden sind, fürchten sie sich, ihre Position zu bekunden. Vor diesem Hintergrund begannen Meldungen über eine Niederlage der weißrussischen Revolution aufzutauchen, Zweifel hinsichtlich einer Wiederaufnahme der Proteste im Frühjahr sowie über Konflikte im Lager der Protestierenden und über die Ineffizienz der Zentren des Protests, wenn sie sich im Ausland befinden. Das Entstehen der neuen Initiative auf der Basis der effektivsten Struktur, die von Lukaschenko-Gegnern gebildet wurde, ist der Versuch, die Initiative zu erlangen, das Interesse für sich und seine Bedeutsamkeit sowie die Fähigkeit, die Situation zu beeinflussen, aufrechtzuerhalten, meinen Experten. „Wenn sich das Oppositionszentrum in der Emigration befindet und dem Prozess der Proteste die Luft ausgeht, so muss dieses Zentrum, um sich die ganze Zeit in Erinnerung zu bringen, mit irgendwelchen Initiativen auftreten. Ja, und da folgen sie, eine nach der anderen – irgendwelche Kommentare, Erklärungen, Initiativen. Sie müssen ständig im Informationsraum präsent sein. Ihre Aufgabe ist es, das Zentrum der Opposition im Informationsraum als eine wichtige Struktur zu bewahren, die irgendwelche Entscheidungen trifft und die politischen Prozesse beeinflusst“, sagte Valerij Karbalewitsch gegenüber der „NG“. Dabei bewertet der Experte die mögliche Effektivität der neuen Initiative als eine „recht bescheidene“. „Die Bildung noch einer Struktur wird die Situation an sich kaum beeinflussen“, sagte er. Allerdings nimmt der Experte an, dass selbst in diesem Fall „eine Aktivität stets besser als Passivität ist“, besonders unter Berücksichtigung der Aktivierung der Proteste im Frühjahr, die es unbedingt geben werde.

Im Pressdienst von Swetlana Tichanowskaja teilte man der „NG“ mit, dass Vertreter von BYPOL zu Wochenbeginn mit Erläuterungen zu den Details des Wirkens des Situations- und analytischen Zentrums auftreten würden. Sie würden berichten, wie gerade die abgesteckten Ziele und Aufgaben realisiert werden sollen. Derweil erklärte Swetlana Tichanowskaja in einem am 28. Februar veröffentlichten Interview der „Bild am Sonntag“, dass sie den Fall des Lukaschenko-Regimes in diesem Frühjahr erwarte. Keine geringen Hoffnungen setzt sie dabei auf den Druck seitens der EU und der USA.