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Tichanowskaja verspricht den politischen Häftlingen eine Amnestie


Die Anzahl der Verurteilten, Festgenommenen und Inhaftierten aufgrund politischer Motive nimmt in Weißrussland täglich zu. Vor Gericht berichten sie über Gewalt und Folterungen. Dies gibt den Menschenrechtlern allen Grund, von „einer humanitären Katastrophe im Zentrum Europas“ zu sprechen. Bisher haben die von den Weißrussen erwartete Amnestie nicht die Herrschenden, sondern deren Opponenten vorgeschlagen.

Am ersten Tag des Julis haben die Menschenrechtler ihr Monitoring der politischen Strafrechtsverfahren bilanziert. Die Bilanz ist eine „trostlose“, wird in einer Mitteilung des Menschenrechtszentrums „Wesna“ konstatiert. Laut dessen Angaben wurden im Juni entsprechend den Protest-Strafverfahren mindestens 125 Menschen verurteilt, davon 40 im Verwaltungsgebiet Brest. Jeder fünfte Verurteilte ist eine Frau. Fünf Personen wurden zu einer medizinischen Zwangsbehandlung verurteilt. Nur in 3,2 Prozent der Fälle enden die Prozesse mit einer Geldstrafe. In den übrigen – mit einem Entzug oder mit einer Einschränkung der Freiheit. Mit Stand vom 1. Juli hat die Anzahl der Inhaftierten, die von den Menschenrechtlern als politische Häftlinge anerkannt wurden, 526 Menschen erreicht (plus 88 im Juni). Von ihnen sind 347 Menschen bereits verurteilt worden, gegen 61 laufen Prozesse. 188 warten auf ihre Gerichtsverhandlungen.

Die Menschenrechtler teilen mit, dass die Offiziellen die Transparenz der Gerichtsprozess einschränken, indem sie nicht einmal Verwandte zu ihnen zulassen. Schon ganz zu schweigen von den Massenmedien und Vertretern der Öffentlichkeit. Dabei erklären die Angeklagten bei den Prozessen, bei denen die Öffentlichkeit die Möglichkeit hat, ihnen beizuwohnen, dass unerlaubte Methoden bei der Vornahme der Untersuchungen angewandt worden seien. Die Richter reagieren jedoch nicht auf diese Erklärungen. In ihrem Bericht weisen die Menschenrechtler rund 20 solcher Fälle aus. Man hätte die Festgenommenen geschlagen, damit sie die notwendigen Aussagen machen. Dafür hätte man sie auch in Wälder gebracht…

Der Gerichtsprozess gegen Nikolaj Dedok, der in diesen Tagen erfolgt, hat dieser Statistik neue Fakten hinzugefügt. Der Angeklagte berichtete, dass man ihn geschlagen und mit einem Kissen die Luft genommen hätte, damit er den Entsperrungscode seines Mobiltelefons und das Passwort seines Computers nennt. Danach habe man ihm Flaschen gebracht, die mit einer gewissen Flüssigkeit mit dem Geruch von Benzin gefüllt waren. Die habe man ihm in den Mund gesteckt und verlangt, dass er sie in den Händen hält. Danach habe man ihn nach Folterungen gezwungen, vor einer Kamera zu erklären, dass er Protestaktionen finanziert und Molotow-Cocktails vorbereitet hätte, obwohl er nichts davon getan hatte.

Die Autoren des Reports lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass Russland das Regime unterstütze und folglich solche Handlungen der weißrussischen Offiziellen billige. Sie zitieren Worte des Pressesekretär des russischen Präsidenten Dmitrij Peskow: „Das Thema der Menschenrechte steht nicht oben auf der Tagesordnung der Begegnungen Putins und Lukaschenkos“. Da Russland aufgrund der geopolitischen Nähe Einfluss auf Weißrussland habe, übe dieser Faktor ernsten Einfluss auf das Geschehen hier aus, betonen die Menschenrechtler. Als ein Ergebnis „ist das Problem der humanitären Katastrophe im Zentrum Europas in Form von massenhaften Verletzungen der Menschenrechte in Weißrussland zu einer Geisel der geopolitischen Lage geworden“, konstatieren sie.

In Gefangenschaft bleiben über 20 Journalisten. Am Mittwoch wurde bekannt, dass gegen den Media-Manager Andrej Alexandrow, den man früher bezichtigt hatte, dass er für Teilnehmer von Protestaktionen Strafen bezahlt hätte, eine neue Anklage erhoben wurde – Staatsverrat. Am Mittwochabend erfolgte auch eine Hausdurchsuchung bei der Analytikerin und Redakteurin der Internetseite „Unsere Meinung“, Valeria Kostjugowa. Danach haben sie und ihren Mann Unbekannte in unbekannte Richtung mitgenommen. Der Wirtschaftsexperte Sergej Tschalyj teilte mit, dass er Weißrussland verlassen hätte (er ist nach Odessa gegangen. Fortgesetzt werden die Repressionen gegen das Business. Nach einer Durchsuchung und Festnahme der Leitung des größten Internetshops „21. Jahrhundert“ hat solch ein Schicksal auch den Kosmetikhersteller „Modum“ ereilt. Es werden keinerlei Details der Fälle mitgeteilt. Die einheimische Öffentlichkeit äußert die Vermutung, dass die Ursache im Bestehen von Projekten mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung liege, die am Vorabend mitgeteilt hatte, dass sie keine staatlichen Vorhaben finanzieren werde. Die Behörden Weißrusslands haben gleichfalls verlangt, die Arbeit des Goethe-Instituts und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes im Land zu stoppen.

Die neue Etappe der Repressionen verbindet die einheimische Öffentlichkeit mit den Sanktionen, die die EU in der vergangenen Woche beschlossen hatte. Zuvor hatte der weißrussische Außenminister Wladimir Makej gewarnt, dass man sich dafür „rächen“ werde, indem die Zivilgesellschaft vernichtet werde und Probleme für die sich hier befindlichen ausländischen Unternehmen geschaffen werden. Allem nach zu urteilen hatte man vergeblich mit einer Amnestie zum Unabhängigkeitstag gerechnet, der am 3. Juli in Weißrussland begangen wird. Recht gehabt haben jene Experten, die eine weitere Eskalation und Verschärfung der Repressalien prognostiziert hatten.

Dafür kündigte die Anführerin der weißrussischen demokratischen Kräfte Swetlana Tichanowskaja eine sich in Vorbereitung befindliche Amnestie an. Zusammen mit dem nach Litauen emigrierten Juristen Sergej Sigrazkij, dem die Behörden die Möglichkeit genommen hatten, in Weißrussland zu arbeiten, präsentierte sie am Donnerstag den Entwurf eines Aktes über eine Haftungsfreistellung und Wiederherstellung der Rechte für die Personen, die aufgrund politischer Motive Verfolgungen ausgesetzt wurden.

Gemäß dem Dokument werden alle nach dem 8. Mai entsprechend den Paragrafen, die zu politischen geworden sind (Massenunruhen, Beleidigung des Präsidenten, Schüren von sozialem Zwist), Verteilten und Angeklagten innerhalb von zwei Tagen nach dem Machtwechsel freigelassen und amnestiert. Auf freien Fuß kommen auch jene, die unter un- bzw. nichtpolitische Paragrafen fallen (zum Beispiel Nichtzahlung von Steuern), aber die meistens zur Bekämpfung von Nichteinverstanden verwendet werden (unter anderem der Präsidentschaftsanwärter und Ex-Chef der Belgazprombank Viktor Babariko). Hinsichtlich deren Fälle werde jedoch eine neue, eine gerechte Untersuchung vorgenommen, um Fakten eines Missbrauchs der Politik auszuschließen. Der Akt verspricht denjenigen Freiheit, die noch Strafen verbüßen, Entschädigungen für jene, die Strafen bezahlt haben, sowie eine Wiederherstellung am Arbeitsplatz für die aufgrund politischer Motive Entlassenen. Die Autoren des Dokuments akzentuieren die Aufmerksamkeit darauf, dass alle, die amnestiert und freigelassen werden, mit einer Prüfung ihres Falls rechnen und an den neuen Präsidentschaftswahlen teilnehmen können.

Natürlich begreift die einheimische Öffentlichkeit, dass die von Swetlana Tichanowskaja vorbereitete Amnestie vorerst ein Projekt bei weitem nicht des heutigen Tages ist. Zur gleichen Zeit konstatiert man aber, dass das Office der Anführerin der weißrussischen Demokraten versucht, den Menschen in Weißrussland etwas Konkretes zu unterbreiten. Eine interessante Meinung hinsichtlich des Akts wurde in einem der Telegram-Kanäle geäußert. „Im Unterschied zu den Plänen für eine künftige Gestaltung von Belarus (eventuell Kredite im Umfang von zehn Milliarden Dollar) ist dieser Entwurf nicht an eine abstrakte Gesellschaft mit dem Ziel, „eine Alternative aufzuzeigen“, gerichtet, sondern gibt durchaus konkrete Rahmen für politische Handlungen vor und liegt in einem gemeinsamen Grundschema mit den Plänen „Peramoga“ (zur Bildung einer Volksbürgerwehr – „NG“)“, schreibt der Kanal „Reflexion und Reaktion“. „So werden die für eine Blockade von Transportwegen, die Organisierung von Massenunruhen und Streiks und sogar wegen Gewalt gegen Amtspersonen, die Dienstpflichten wahrnehmen, automatisch von einer Haftung entbunden. Die wegen Terrorismus und der Tötung eines Mitarbeiters des Innenministeriums Einsitzenden werden auf freien Fuß kommen, wenn ihre Verfolgung eine politisch motivierte gewesen war“, heißt es in dem Post. „Vom Wesen her ist dies grünes Licht für ein radikales Szenario“, schlussfolgert der unbekannte Autor, der beinahe 20.000 Follower hat. „Dieser Entwurf für eine Amnestie ist nicht nur an jene gerichtet, die einsitzen, sondern auch an jene, die darüber nachdenken, welche Methoden man bei einer nächsten politischen Zuspitzung akzeptabel anwenden kann. Der Tichanowskaja-Stab antwortet verschleiert – es ist akzeptabel, jegliche Methoden bis hin zu den radikalsten anzuwenden“, meint er.