Präsident Qassym-Schomart Tokajew hat den Kasachstanern zum stattgefundenen Referendum der Republik gratuliert, bei dem die Beteiligung ca. 68 Prozent ausmachte. Die Änderungen am Grundgesetz würden nach Aussagen des Staatsoberhauptes zu einem Unterpfand dafür werden, dass sich die Unruhen, die sich im Januar im Land ereignet hatten, nicht wiederholen. Derweil hatten mehrere kasachische Aktivisten direkt auf den Stimmzetteln die Forderungen nach einer „Vornahme einer internationalen Aufklärung der Januar-Tragödie, in deren Ergebnis 230 Menschen ums Leben gekommen sind“, geschrieben.
Nach Aussagen Tokajews werde die Untersuchung der Januar-Ereignisse detailliert und sorgfältig von den bevollmächtigten Organen durchgeführt. Alle Materialien würden von der Generalstaatsanwaltschaft veröffentlicht werden. „Es gibt keinerlei Geheimnisse für unsere Gesellschaft. Wir tun alles offen, transparent, auf einem hohen professionellen Niveau. Daher besteht keine Notwendigkeit, internationale Experten einzuladen“, erklärte das Staatsoberhaupt bei einem improvisierten Briefing für Journalisten nach der Abstimmung am 5. Juni in einem der Abstimmungslokale.
Es sei daran erinnert, dass massenhafte Protestaktionen, die im Westen der Republik begonnen hatten, innerhalb weniger Tage alle großen Städte des Landes erfassten. Der Präsident sprach von einem Staatsstreichversuch und wandte sich um Hilfe an die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit. Nach Wiederherstellung der Ordnung unterbreitete er ein Programm für eine komplexe Modernisierung des politischen Systems von Kasachstan, unter anderem den Übergang von einer superpräsidialen Herrschaftsform zu einer Präsidialrepublik mit einem starken Parlament.
Beim Referendum wurden 33 Änderungen zur Abstimmung gebracht, die ein Drittel des Grundgesetzes betreffen. Geantwortet werden sollte jedoch nur auf eine Frage: „Akzeptieren Sie die Änderungen und Zusätze zur Verfassung der Republik Kasachstan, die im Entwurf des Gesetzes der Republik Kasachstan „Über die Vornahme von Änderungen und Zusätzen zur Verfassung der Republik Kasachstan“ dargelegt worden sind, der am 6. Mai 2022 in den Massenmedien veröffentlicht wurde?“.
Nur ein Monat war für eine Volksaussprache zu den Neuerungen eingeräumt worden. Aber, wie Tokajew sagte, „hat es keinerlei Nötigung gegeben“. Die Menschen waren ab den früheren Morgenstunden aktiv in die Abstimmungslokale gekommen. Und bereits zu den Mittagsstunden machte die Beteiligung fast 60 Prozent aus. Somit ist das Referendum, „das auf einem hohen Niveau organisiert wurde“, als ein stattgefundenes anerkannt worden. Der kasachische Politologe Talgat Kalijew ist der Auffassung, dass, wenn die Änderungen angenommen werden, der politische Prozess im Land die Chance habe, eine neue Ausgestaltung zu erlangen, und dem Volk würden der Charakter eines politischen Subjekts und das von der Verfassung vorgesehene Recht des einzigen Trägers der Macht zurückgegeben werden.
Der Direktor der Agentur für ethnonationale Strategien, Professor Dr. sc. hist. Alexander Kobrinskij, sagte, dass die Verfassung Spielregeln vor allem für die politische Elite seien. Auf das Leben des Durchschnittsbürgers werde sie sich äußerst wenig auswirken. „Tokajew gestaltet für sich ein politisches System und dementsprechend die Regeln für das politische Leben entsprechend seiner Sichtweise, die bis dahin in erheblichem Maße für den vorangegangenen Präsidenten personifiziert waren“, sagte Kobrinskij der „NG“. Nach seinen Worten sei dies eine Veränderung des gesamten politischen Systems. Bei der hohen Beteiligungsrate und der großen Unterstützung beim Referendum (77,18 Prozent der Teilnehmer stimmten für die Verfassungsänderungen – Anmerkung der Redaktion) werde dies erlauben, die Spaltung der Gesellschaft und die im Januar aufgekommenen negativen Tendenzen zu überwinden.
Was das Aufkommen politischer Kräfte angehe, so erlaube die Verfassung, wie der Experte meint, dass neue politische Parteien entstehen. Die Frage bestehe lediglich darin, wie die Praxis der Rechtsanwendung aussehen werde. Zur gleichen Zeit ergebe sich aber für jene, die der Auffassung sind, dass die Gesetze verletzt worden seien, die Möglichkeit, die Entscheidung im Verfassungsgericht anzufechten. Ein anderer Aspekt sei, dass diese neuen politischen Parteien wohl kaum eine Unterstützung der Gesellschaft erhalten würden. „Inwieweit wird alles arbeiten? Wir wissen, dass die Verfassung der UdSSR von 1936 die demokratischste in der ganzen Welt gewesen war. Und ungeachtet dessen wurden im Land die schlimmsten Repressalien vorgenommen. Die Frage steht nicht hinsichtlich der Verfassung. Die Frage betrifft die Rechtsanwendung und die Auslegung der Normen des Grundgesetzes“, meint Kobrinskij. Dies werde man nach seinen Worten recht bald beurteilen können. Qassym-Schomart Tokajew trat beispielsweise mit der Erklärung auf, dass er nicht mit Hilfe der Verfassung die Amtszeiten seiner Vollmachten verlängern werde, Das heißt, sozusagen kein Resetten der Amtszeit des Präsidenten vornehmen werde.
Beim Referendum hatte auch der erste Präsident Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, abgestimmt. Dies teilte sein Pressesekretär Aidos Ukibai mit. Am Vorabend hatte Nasarbajew in einem Interview für den Politologen Danijar Aschimbajew erklärt, dass er vollkommen die von Tokajew unterbreiteten Änderungen am Grundgesetz unterstütze, von denen beinahe die wichtigste ihm selbst faktisch alle Vollmachten nimmt und lediglich seine Rolle als Begründer des heutigen Kasachstans fixiert. Allerdings begreifen viele in Kasachstan die Abstimmung beim Referendum als eine Aberkennung aller Privilegien Nursultan Nasarbajews. Nach Meinung des Politologen Arkadij Dubnow sehe Nasarbajews Erklärung wie ein gewisser Deal aus, der von den derzeitigen Herrschenden angeboten worden war: Ich werde Ihnen/Euch einen Teil meiner nächsten Umgebung ausliefern, darunter der „Familie“ und eventuell gar einen Teil der gewaltigen finanziellen und materiellen Ressourcen, die sich unter ihrer Kontrolle befinden, und Ihr/Sie garantieren mir, einen Platz in der Geschichte zu bewahren.
Wie der Direktor der Gruppe zur Bewertung von Risiken, Dosmym Satpajew, gegenüber der „NG“ sagte, würden die Artikel, die die Macht-Usurpation betreffen und das Verbot für die Verwandten des Staatsoberhauptes, offizielle Ämter zu bekleiden, bei der Bevölkerung Popularität genießen und gut durch Reklame untersetzt worden seien. Was aber die anderen Änderungen angehe, so ähneln sie mehr Quests. Die Formulierungen vieler von ihnen seien recht komplizierte und hätten mehr einen technischen Charakter. Der Experte denkt, dass mit der Annahme der neuen Fassung der Verfassung die Vollmachten des Präsidenten in keiner Weise leiden würden.
Großangelegte Protestaktionen, zu denen Aktivisten die Bevölkerung aufgerufen hatten, haben nicht stattgefunden. In Almaty nahmen Vertreter der Rechtsschutz- und Sicherheitsorgane einen Teilnehmer der Bewegung „Oyan Qazaqstan“ fest, der im Stadtzentrum zu einer Einzelmahnwache gekommen war. Der Aktivist erklärte, dass er nicht vollkommen für das gesamte Reformpaket abstimmen wolle. Denn dies seien nach seiner Meinung halbherzige Reformen, und sie seien keine politischen.
Nach Auffassung des kasachischen Wirtschaftsexperten Pjotr Swoik hätte man beim Referendum drei Hauptfragen zur Abstimmung bringen, die übrigen 30 durch das Parlament bestätigen können. Dennoch ist er der Meinung, dass das Referendum eine Bilanzierung des vergangenen Zeitabschnitts des Landes gewesen sei. Es sei daran erinnert, dass das erste Referendum in Kasachstan 1995 stattfand. In den nachfolgenden Jahren wurden alle Änderungen am Grundgesetzt im Parlament vorgenommen. „Mit der Erneuerung der Verfassung beginnt die reale Macht des zweiten Präsidenten, von Qassym-Schomart Tokajew“, meint Swoik.