Rund 30 Prozent der Haushalte in der Russischen Föderation fallen zumindest hinsichtlich eines der Kriterien unter die Kategorie der chronisch armen. Dies sind Angaben einer Untersuchung der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst, die bei der April-Konferenz der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften veröffentlicht werden. Die Experten der Akademie betonten, dass die Löhne und Gehälter sowie Renten die Werte hinsichtlich des relativ erfolgreichen Jahres 2013 überstiegen hätten. Dies habe aber insgesamt nicht die Einkommen der Bevölkerung auf den Vorkrisenstand gebracht.
Die Armut bleibt das entscheidende soziale Problem der Russischen Föderation. Und besonders besorgniserregend ist das, dass im Land der Anteil der Haushalte groß ist, die hinsichtlich einiger Kriterien zu den chronisch armen gerechnet werden können. Diesem Problem ist eine Untersuchung der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst gewidmet, deren Ergebnisse auf der Internationalen wissenschaftlichen April-Konferenz der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften vorgestellt werden. Eine Annotation des Reports ist bereits auf der Internetseite der Veranstaltung gepostet worden. Die Autorinnen – die wissenschaftlicher Oberassistentin des Instituts für soziale Analyse und Prognostizierung der Akademie Alexandra Burdjak und die leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin dieses Instituts Jelena Grischina – untersuchen drei Merkmale der nichtmonetären Armut: eingeschränkte Möglichkeiten bei der Befriedigung der grundlegenden Verbraucherbedürfnisse, eine geringe subjektive Bewertung der materiellen Lage und den hohen Anteil der Ausgaben für Essen und als Folge der Mangel an Einkünften für übrige Waren und Dienstleistungen.
Unter einer langen oder chronischen Armut verstehen die Forscherinnen das Verweilen eines Haushalts in den ausgewiesenen Zuständen im Verlauft der letzten drei Jahre. Der Untersuchung liegen die Ergebnisse einer repräsentativen sozial-demografischen Erhebung zugrunde, die im Zeitraum ab der zweiten Märzhälfte bis zur ersten Maihälfte des vergangenen Jahres unter 9500 Befragten vorgenommen wurde.
Laut den Befragungsergebnissen können 26 Prozent der Familien ihre grundlegenden Verbraucherbedürfnisse nicht befriedigen. „Ihnen mangelt es entweder an Geld sogar für das Essen, oder die Einkünfte reichen für das Essen, aber es fällt ihnen schwer, Bekleidung zu kaufen oder die Wohnraum- und kommunalen Kosten zu begleichen.“ Davon können sich rund zwei Drittel der Familien lange Zeit – zumindest in den letzten drei Jahren — keine Ausgaben für noch etwas außer Essen leisten.
Dabei bewerten 24 Prozent der Haushalte ihre materielle Lage als eine schlechte. Genauso leben etwa zwei Drittel von ihnen ständig, drei Jahre und länger in einem Zustand, in dem die materielle Lage eine schlechte oder sehr schlechte ist.
Schließlich ist für ungefähr jede vierte befragte Familie ein hoher Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel (mehr als die Hälfte) an den Gesamteinkünften des Haushaltes charakteristisch. Von denen befinden sich erneut zwei Drittel der Familien chronisch im Zustand einer Armut hinsichtlich dieses Kriteriums.
„Insgesamt fallen 30 Prozent der Haushalte zumindest hinsichtlich eines der Kriterien in die Kategorie der chronisch armen“, resümieren die Forscherinnen. „All drei Merkmale für eine chronische Armut sind bei vier Prozent der Haushalte anzutreffen (der Kern der chronischen Armut)“.
Und noch eine unerwartete Schlussfolgerung der Untersuchung: „Wenn man die chronische Armut nach Gruppen der Familien – hinsichtlich des Vorhandenseins von Personen im Rentenalter und minderjähriger Kinder in ihnen – untersucht, so sind die Familien die am schlechtesten gestellten, in denen es Rentner und keine Kinder gibt“.
Also hat zum Zeitpunkt des Eintretens des Landes in die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Krise etwa jeder dritte Haushalt bereits schwere chronische Probleme mit der materiellen Sicherstellung durchgemacht.
In diesem Jahr haben die Wissenschaftler bisher keine Fragen hinsichtlich der langen Armut gestellt. Daher gibt es keine vergleichbaren Einschätzungen für das Jahr 2021. „Eine Anfang des Jahres 2021 durchgeführte Befragung hat jedoch gezeigt, dass 53 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass sich die materielle Lage ihrer Familie im Jahr 2020 verschlechtert habe. Und Angaben des russischen Statistikamtes zeigen, dass der Anteil der Bevölkerung mit Einkünften unterhalb des Existenzminimums im Zeitraum Januar-September des Jahres 2020 über dem Wert des analogen Zeitraums des Vorjahres lag (13,3 Prozent gegenüber 13,1 Prozent)“, teilte Jelena Grischina der „NG“ mit.
Sie präzisierte gleichfalls, dass das Ausmaß der chronischen Armut, das in der vorgelegten Arbeit bestimmt wurde, „wesentlich von der angewandten Methodik abhängt“.
„In Zeiten sozial-ökonomischer Krisen ist die Politik des Staates auf dem Gebiet der Unterstützung der Bevölkerungseinkünfte ein wichtiger Faktor, der darauf wirkt, ob die real zur Verfügung stehenden Einkünfte fallen werden. Und wenn ja, wie tief“, erläuterten Spezialisten des Zentrums für Entwicklung der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften in einem ihrer Bulletins. Sie erinnerten daran, dass nach der Krise der Jahre 2008-2009 zu einem Faktor, der die Stützung der Bevölkerungseinkünfte förderte, „die schnelle Anhebung der Höhe der Renten und deren Valorisation im Jahr 2010 wurden“.
Im vergangenen Jahr haben die Unterstützungsmaßnahmen einen positiven Beitrag zu den sozialen Transfers und den Bevölkerungseinkünften insgesamt geleistet, konstatierten die Wirtschaftswissenschaftler. So ist der reale Arbeitsverdienst unter Berücksichtigung der Inflation im Jahr 2020 zwar langsamer als im Vorjahr, dennoch aber weiter gestiegen, „unter anderem durch die Unterstützungsmaßnahmen“. „Im Endergebnis überstieg der reale Arbeitsverdienst um 9,3 Prozent den Stand von 2013. Die Anhebung begann ab 2018 und machte im Jahr 2019 6,6 Prozent aus“, teilte man im Zentrum für Entwicklung mit. Außerdem hat laut Angaben der Wirtschaftsexperten „die reale Höhe der festgelegten Renten endlich den Stand von 2013 überschritten“.
„Dennoch sind die realen zur Verfügung stehenden Bevölkerungseinkünfte um 3,5 Prozent zurückgegangen und machten 89,4 Prozent vom Stand des Jahres 2013 aus“, betonte man in der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften. Und während früher die Dynamik der Löhne und Gehälter und insgesamt der Bevölkerungseinkünfte doch korrelierten, so kam es beginnend ab 2019, also noch vor der Pandemie, zu einem heftigen Einbruch. Die Zunahme der Löhne und Gehälter sowie Renten hat allem nach zu urteilen aufgehört, die Bevölkerungseinkünfte „mitzuziehen“.
Wie in der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften präzisiert wird, werde die Beurteilung des Beitrags der Löhne und Gehälter zum Wachstum der Bevölkerungseinkünfte dadurch erschwert, dass „das Wachstum der realen Löhne und Gehälter der in Betrieben Beschäftigten in den letzten Jahren von einer Verringerung der Beschäftigtenzahl in den Groß- und mittleren Betrieben begleitet wurde“. „Die Beschäftigtenrate in den Kleinunternehmen stagnierte. Die Arbeitseinkünfte, die neben den Löhnen und Gehältern in den Betrieben die Entlohnung der bei Einzelunternehmern Beschäftigten und der natürlichen Personen, darunter im informellen Sektor einschließt, waren geringer und stiegen langsamer als die Durchschnittslöhne und -gehälter der in Betrieben und Organisationen Beschäftigten. Im vergangenen Jahr förderten sie nicht die Beseitigung der sich herausgebildeten strukturellen Disproportionen des Arbeitsmarktes sowie der Löhne und Gehälter“, erläuterten die Wirtschaftsexperten.
Allerdings nimmt in der Struktur der Geldeinkünfte der Bevölkerung der Anteil der Arbeitsvergütung und sozialen Zahlungen nur zu. Laut vorläufigen Angaben des russischen Statistikamtes für das Jahr 2020 entfielen auf die Arbeitsvergütung insgesamt in den Bevölkerungseinkünften bereits fast 59 Prozent, und auf die sozialen Beihilfen – 21 Prozent. Dabei machten die Einkünfte aus dem Unternehmertum etwas weniger als fünf Prozent aus, durch das Eigentum – etwas mehr als vier Prozent, und die „anderen finanziellen Einnahmen“ – 10,6 Prozent. Und ungeachtet solch eines großen Gewichts haben weder die Löhne und Gehälter noch die Beihilfen die Einkünfte der Bürger in ein Plus gebracht.
Und unter den Bedingungen, unter denen weder das durch die Statistik fixierte Ansteigen der Löhne und Gehälter noch die Anhebung der Renten helfen, könnte was für eine Maßnahme die Bevölkerungseinkünfte zu einem Wachstum führen? Was muss man anheben oder neu berechnen und um wieviel, um eine Wirkung zu erzielen, die beispielsweise damit vergleichbar ist, die früher eine Valorisation der Renten gewährleistete?
„Was die Valorisation der Renten angeht, so ist die Frage nach einer gerechten Bewertung der Pensionsrechte der Bürger, die die Rente in der UdSSR formierten, herangereift. Jetzt führt eine gerechte Bewertung nur zu deren Verringerung bei einem Teil der Bürger, da nach wie vor Millionen Bürger im „Graubereich“ sind und die Pensionsrechte durch den Etat erhalten, aber keine Rentenbeiträge“, warnte der unabhängige Rentenberater Sergej Swenigorodskij. Seiner Meinung nach bringe jedoch, wenn man zusätzliche Maßnahmen zur Anhebung der Renten durchführt, unabhängig von der realen Auffüllung des Budgets des Rentenfonds Russlands, eine Anbindung an die Verbrauchernachfrage und die Entwicklung der Landeswirtschaft den notwendigen Effekt.
„Die Frage besteht nur darin, wie dies durchführen. Einmalige Auszahlungen sind unzureichend, ständige führen aber zu einem akuten Haushaltsdefizit bereits im Verlauf von zwei, drei Jahren“, erläuterte der Experte. „Das Wachstum der Löhne und Gehälter der im staatlichen Sektor Beschäftigten erfolgt heute in Bezug auf Mediziner und Lehrer. Für alle sofort kann der Staat eben aus diesem Grunde, aufgrund des akuten Haushaltsmangels in baldiger Zukunft keine Mittel bereitstellen.“
„Die substituierenden sozialen Zahlungen im Jahr 2020 haben zu deren Anstieg in der Struktur der Einkünfte der Bürger von 18,9 bis auf 21 Prozent geführt“, betonte Olga Lebedinskaja, Dozentin an der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität. „Während die Wirkung durch die sozialen Zahlungen praktisch sofort zu Tage tritt, gibt es im Wirtschaftssektor eine zeitliche Verzögerung. Die Wirkung der staatlichen Unterstützungsmaßnahmen tritt erst nach Erreichen der projektierten Leistung des jeweiligen Unternehmens zu Tage“.
„Gegenwärtig ist offensichtlich, dass weder die einmaligen Zahlungen an die Bevölkerung mit Kindern noch die Anhebung der Renten um durchschnittlich 5 bis 6 Prozent im Verlauft der nächsten drei Jahre in der Lage sind, die Höhe der Einkünfte der Bürger grundlegend zu verändern“, meint Artjom Dejew, Leiter des analytischen Departments der Investitionsfirma „AMarkets“. „Die Lebensmittelinformation, die im Verlauf dieses Jahres zweistellige Werte erreichen kann, wird diese Anhebungen der Renten und Beihilfen „auffressen““.