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Turkmenistan ist in eine demografische Grube gefallen


Turkmenistans Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow hat angeordnet, im kommenden Jahr eine Bevölkerungszählung durchzuführen. Laut offiziellen Angaben leben in der Republik 6,2 Millionen Menschen. Derweil herrscht im Land eine demografische Krise.

Laut Berechnungen von Vertretern staatlicher Behörden beträgt „die faktische Anzahl“ der Bevölkerung 2,7 bis 2,8 Millionen Menschen. Dies berichtete eine gut informierte Quelle dem turkmenisch-sprachigen Dienst von Radio Liberty. „Jetzt hat man eine „Schatten“-Bevölkerungszählung abgeschlossen. Verwendet wurden unterschiedliche Methoden, vor allem ein Abgehen von Häusern und Wohnungen. Berücksichtigt wurden auch andere Daten — die Anzahl der Rekruten für die Armee, der Schulabgänger, der Studierenden in den Hochschulen, der Zöglinge in den Kindergärten und der Häftlinge. Erfasst wurden Angaben des Migrationsdienstes über die Ankommenden und Ausreisenden, Informationen aus den Standesämtern über Geborene und Verstorbene usw.

Hinsichtlich aller Berechnungen machte die Bevölkerung Turkmenistans zu Beginn dieses Jahres etwa 2,7 Millionen Menschen aus“, behauptet die Quelle. Zwei andere unabhängige Quellen bestätigen diese Information.

Die letzte Bevölkerungszählung wurde in Turkmenistan im Dezember 2012 vorgenommen. Doch aufgrund von nur den turkmenischen Offiziellen verständlichen Ursachen sind die Ergebnisse nicht veröffentlicht worden. Was sie veranlasste, auf eine Veröffentlichung zu verzichten, bleibt ein Rätsel. Sowohl die Informationen über die wahre Anzahl der Bevölkerung als auch über die nationale Zusammensetzung, die Lebenserwartung sowie über die Zusammensetzung nach Geschlechtern und Altersgruppen – alles wurde auf sorgfältigster Art und Weise verheimlicht. Dabei wurden in verschiedenen Jahren nach dem Machtantritt von Berdimuhamedow die Versionen verbreitet, dass die Bevölkerungszahl in Turkmenistan 6 Millionen Menschen überschreite. Diese Zahlen gelangten in die offiziellen Quellen noch aus einer offenkundig politischen und überdies verbalen Erklärung des ersten Präsidenten Nijasow bei der „Geburt des sechsmillionsten Einwohners von Turkmenistan“ im Jahr 2003.

Zur Ursache der demografischen Krise wurden die drastische Verschlechterung der sozialen Situation, die allumfassende Arbeitslosigkeit und als Folge der Rückgang des Lebensniveaus und der Lebensqualität, die totale Korruption und die Willkür der Vertreter der bewaffneten und Rechtsschutzorgane. All dies führte letztlich zu einer massenhaften Auswanderung, deren genauen Ausmaße schwer zu bestimmen sind. Doch laut Angaben der gleichen Quellen aus dem Migrationsdienst von Turkmenistan können sie für die letzten zehn Jahre zwei Millionen erreichen.

„Verboten sind Informationen über Naturkatastrophen und technogene Unglücke, Missernten, einen Lebensmittelmangel und die Migration sowie jegliches Negative, was zumindest von einer geringsten Unfähigkeit der Herrschenden zeugt. Das zerstörerische Erdbeben in der Stadt Kasandschik im Jahr 2000, die Explosionen in einem Militärdepot in Büzmeýin (Abadan) – einem Vorort der Hauptstadt Aschgabat – im Jahr 2011 und natürlich das Vorhandensein des Coronavirus in Turkmenistan – alles wurde verheimlicht, bestritten und von den Behörden verschleiert. In diesem Land kann es nichts Derartiges geben! Es ist so weit gegangen, dass selbst das Wort „Problem“ aus ausnahmslos allen Materialien entfernt wurde, die die innere Lage im Land betreffen“, sagte der „NG“ der turkmenische Experte Serdar Aitakow. Nach seiner Meinung würden die Angaben über die Demografie – die Bevölkerungszahl, die Lebensdauer, die Angaben zur Kindersterblichkeit – gleichfalls einer totalen Zensur und dann auch einer Manipulation unterzogen. Der Experte sagt, dass die Offiziellen kein „schlechtes Leben des Volkes“ zulassen könnten. Im Gegenteil, alle sollen Freude demonstrieren, singen, tanzen und natürlich sich befruchten und vermehren. Das Bevölkerungswachstum sei einer der Fetische der Offiziellen.

Die Verheimlichung von Informationen bringe mehrere ernsthafte Herausforderungen für die Herrschenden an sich mit, meint Serdar Aitakow. Eine bestehe darin, dass man auf internationaler Ebene aufgehört habe, den Informationen zu vertrauen, die durch die turkmenischen Behörden der internationalen Staatengemeinschaft über den Zustand der Wirtschaft, die Demografie und andere Parameter zum Zustand des Staates als einen lebensfähigen Mechanismus vorgelegt werden. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank haben es einfach abgelehnt, die Angaben der Behörden in ihren Berichten und bei der Planung zu verwenden, was zweifellos nicht nur die Absichten dieser Strukturen bezüglich Turkmenistans beeinflusst, sondern sich auch auf dessen Ansehen insgesamt auswirkt.

„Eine Teilnahme an internationalen Ratings und Indexen kann man einfach vergessen. Natürlich besteht die Möglichkeit, an die Fakten der Aufnahme der zahlreichen turkmenischen Übungen ins Guinness-Buch der Rekorde appellieren, worauf Präsident Berdimuhamedow persönlich grenzenlos stolz ist. Doch reale Autorität, Vertrauen und Ansehen bringen diese Guinness-Rekorde nicht“, meint Aitakow.

Eine zweite Herausforderung sei nach Meinung des Experten die Tatsache, dass die Informationen über die reale, das heißt die relativ geringe Bevölkerungszahl den Umfang der Investitionen für die turkmenische Wirtschaft verringere, was noch mehr deren Entwicklung aufhalten werde. Ja, und die Entwicklung an sich sei nach Aussagen Aitakows bereits fraglich. Im Land gebe es einfach keinen, der arbeiten könne. Und das Bildungsniveau und der reale Mangel an qualifizierten Kadern würden nicht erlauben, das Potenzial der bereits errichteten hochtechnologischen Objekte – sowohl der Industrie als auch der städtischen Infrastruktur – zu nutzen. „Und eine Lösung des Problems ist nicht auszumachen. Die qualifizierten Spezialisten haben das Land verlassen. Und die begabte Jugend geht den gleichen Weg“, sagte Aitakow.

Eine noch sehr ernsthafte Herausforderung, die vor den Offiziellen stehe, sei die militärische Sicherheit. Die riesigen Territorien Turkmenistans und die kolossalen Gasvorräte könnten bald von keinem bewacht und geschützt werden, da es bei der zahlenmäßig geringen Bevölkerung schwer sei, eine kampfstarke Armee und eine sie unterstützende Militärwirtschaft aufzubauen, sagte der Experte. Das Setzen der Offiziellen auf die Spezialtruppen, auf die Bekämpfung des „inneren Extremismus“ könne nicht nur im Falle eines großangelegten Konflikts, sondern auch bei einer ernsthaften Zuspitzung an der Grenze – Afghanistan ist nebenan — nicht funktionieren.

„Die skandalösen Ergebnisse der Vorab-Bevölkerungszählung belegen den Bankrott der Offiziellen und deren Politik. Berdimuhamedow hat sich am Bau von Palästen, Hotels und Stadien begeistert, wobei er den Hauptteil der Bevölkerung ohne eine reale Arbeit und ohne eine notwendige soziale Infrastruktur ließ. Die staatlichen Investitionen von zig Milliarden, und andere gibt es in Turkmenistan praktisch nicht, die auf die Gestaltung einer Industrie-Infrastruktur ausgerichtet sind, bleiben in der Kategorie „nicht der Rede wert“. Wie bereits erwähnt wurde, gibt es keinen, der in ihnen arbeiten und sie warten kann. Sie verspüren einen überaus akuten Personalmangel“, meint Serdar Aitakow.

Übrigens, in einer der jüngsten Empfehlungen der Weltbank war als eine gesonderte Zeile der Appell an die Offiziellen von Turkmenistan enthalten, auf das Investieren in unnötige Infrastrukturobjekte zu verzichten sich auf die Bewahrung und Entwicklung des „Menschenpotenzials“ – auf die Medizin, das Bildungswesen und die Anhebung des Niveaus und der Qualität des Lebens – zu konzentrieren. „Die Offiziellen schenken dem aber kein Gehör und verfolgen weiter ihre Linie, mit der man ein weiteres Mal ins Guinness-Buch der Rekorde gelangen kann – für die schnellste Verringerung der eigenen Bevölkerung in Friedenszeiten“, meint der Experte.