Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Über 50 Prozent der Russen sind gegen eine Vernichtung von Sanktionsprodukten


Die Bürger Russlands ändern ihre Haltung sowohl zur Importsubstitution als auch zur Vernichtung von Sanktionslebensmitteln, zeigen Befragungen der Stiftung „Öffentliche Meinung“ (FOM). Vor fünf Jahren, gleich nach der Verhängung des Lebensmittelembargos und der Verkündung einer Importsubstitution unterstützte die Mehrheit der Bürger eine derartige Politik. Heute haben sich die öffentlichen Stimmungen spürbar verändert. Beinahe 55 Prozent billigen nicht das Plattrollen von Nahrungsmitteln durch Bulldozer.

Das Lebensmittelembargo gilt bereits sechs Jahre in Russland. Und die Regeln für das Vernichtung von Sanktionsprodukten durch das Plattrollen durch Traktoren und Bulldozer – über fünf Jahre. Und in dieser Zeit hat sich die Haltung der Bürger gegenüber den Sanktionswaren, die nicht gemäß den Regeln eingeführt worden sind, wesentlich verändert. Laut den Umfrageergebnissen der Stiftung „FOM“ sind heute nur 30 Prozent der Auffassung, dass man die Lebensmittel, die unter Umgehung der Sanktionen nach Russland eingeführt wurden, vernichten müsse. Zum Vergleich: Vor fünf Jahren unterstützten solch eine Meinung 42 Prozent der Befragten. Die Mehrheit aber (55 Prozent) treten gegen eine Vernichtung von Sanktionslebensmitteln auf.

Die gegen eine Vernichtung Auftretenden erklären, dass man die Sanktionsprodukte an Arme und einer sozialen Unterstützung Bedürftigen verteilen müsse. Solch eine Meinung vertreten unter anderem 37 Prozent der Russen. Und rund 9 Prozent der Befragten sind der Annahme, dass man solche Waren verkaufen müsse. Eine herbe Schlappe für das vom Kreml initiierte Lebensmittelembargo.

Es ist für die einen oder anderen erstaunlich, dass in den letzten fünf Jahren die Bürger Russlands insgesamt das geltende Lebensmittelembargo vergessen haben, dass durch die russische Regierung verhängt worden war. Im Jahr 2015 wussten vom Lebensmittelembargo 53 Prozent der Bürger. Und heute sagt lediglich jeder fünfte Russe, dass er von den nach wie vor geltenden Verboten weiß. 41 Prozent der Befragten behaupten, dass sie nichts von der Verbotspraxis und Vernichtung von Lebensmitteln gehört hätten. Während vor fünf Jahren nur 15 Prozent der Befragten „nicht auf dem Laufenden“ gewesen waren.

Dabei sind in den fünf Jahren des Geltens des Erlasses, der eine Vernichtung von Sanktionserzeugnissen vorschreibt, 36.170 Tonnen Lebensmittel vernichtet worden, teilte man in der für die Landwirtschaft zuständigen Aufsichtsbehörde Rosselkhoznadzor mit. Und von dieser Menge wurden 34.940 Tonnen Produkte des Ackerbaus bzw. der Pflanzenproduktion und 1.230 Tonnen Produkte aus der Viehwirtschaft vernichtet worden. Laut den Ergebnissen der ersten sieben Monate dieses Jahres wurden 1.890 Tonnen Lebensmittel, die einem Einfuhrverbot unterliegen, vernichtet, davon 1.870 Tonnen pflanzlichen Ursprungs.

Es sei daran erinnert, die Vernichtung von geschmuggelten Lebensmitteln, die aus den sogenannten Sanktionsländern gekommen waren, begann ab dem 6. August 2015 entsprechend dem Erlass des russischen Präsidenten „Über einzelne spezielle Wirtschaftsmaßnahmen, die zur Gewährleistung der Sicherheit der Russischen Föderation angewandt werden“. Das Lebensmittelembargo an sich gilt aber seit dem August 2014, als es gegen die Länder verhängt wurde, die antirussische Sanktionen verhängt oder unterstützt hatten. Ursprünglich fielen Fleisch und Fleischprodukte, Milch und Milchprodukte, Fisch und Fischerzeugnisse, Gemüse und Obst unter das Verbot. Ab Oktober 2017 wurde verboten, lebende Schweine einzuführen. Eine Ausnahme bildeten reinrassige Zuchttiere, aber auch Innereien und tierisches Fett sowie Tieröl. 

Die Nichtbereitschaft der Bürger Russlands, sich mit der Vernichtung von Essen abzufinden, wird auch durch deren Gewissheit untermauert, dass Importwaren eine höhere Qualität aufweisen würden. Wie aus den FOM-Angaben folgt, ist sich heute jeder dritte Russe gewiss, dass ausländische Produkte hinsichtlich ihrer Eigenschaften eine höhere Qualität besitzen als einheimische. Und solch eine Gewissheit hat sich im Verlauf der letzten fünf Jahre faktisch nicht geändert. Dabei sind lediglich 16 Prozent der Annahme, dass die russischen Waren bessere Qualitätseigenschaften besitzen. 36 Prozent sind sich dessen sicher, dass die Import- und die einheimischen Waren ähnlich sind.

Daneben nimmt unter den Bürger Russlands die Ablehnung einer Vernichtung von Importnahrung zu. Der Optimismus hinsichtlich der Politik zur Importsubstitution nimmt bei den Bürgern der Russischen Föderation ab. Es sei daran erinnert: Im Jahr 2014 war zusammen mit dem Verbot für eine Einfuhr bestimmter Kategorien ausländischer Waren durch die Offiziellen auf eine Ersetzung importierter Erzeugnisse durch einheimische analoge gesetzt worden. 

Und heute sind sich nicht alle der Richtigkeit solch einer Politik sicher. So sind 36 Prozent der Russen der Annahme, dass man einige Warenkategorien nicht durch einheimische ersetzen müsse. Dabei vertraten vor noch fünf Jahren 29 Prozent der Befragten solch eine Meinung, folgt aus einer entsprechenden FOM-Umfrage. Außerdem sind 18 Prozent der Befragten überhaupt der Auffassung, dass man nicht zu solch eine Substitution streben müsse, während 36 Prozent von der Notwendigkeit einer totalen Ersetzung von Importen sprechen.

Was bemerkenswert ist: Beim Kauf von Non-Food-Produkten schenken 41 Prozent der Russen dem Herstellungsland keine Beachtung, während jeder dritte ausländische Erzeugnisse bevorzugt. Einheimische analoge Produkte wählen lediglich 16 Prozent der Befragten aus. Und, wie die Soziologen mitteilen, die absolute Mehrheit (81 Prozent) tätigen nie aufgrund politischer Motive Einkäufe. 

Nach Meinung der Russen müsse Russland nicht unbedingt versuchen, ausländische Haushalttechnik durch einheimische zu ersetzen. So denken 8 Prozent der Befragten. Jeweils 5 Prozent plädieren gegen eine totale Ersetzung von Bekleidung und PKW. 4 Prozent sehen keinen Sinn in einer Ersetzung einiger Produktkategorien, darunter Kaffee und Molkereiprodukte.

Die Nichtbereitschaft Russen, vollkommen auf einige ausländische Produkte zu verzichten, bestätigen auch Daten aus der Statistik. Beispielsweise nimmt der Import von Milchprodukten ins Land weiter zu. So sind, wie aus den Angaben des Föderalen Zolldienstes (FZD) folgt, entsprechend den ersten sieben Monaten dieses Jahres die Lieferungen von Butter um 15 Prozent angestiegen und machten fast 79.000 Tonnen aus. Die Einfuhr von Käse und Quark nahm im gleichen Zeitraum um 9 Prozent zu und erreichte 168.000 Tonnen. Die Lieferungen von Milch und eingezuckerter Milch sind im Juli um 15 Prozent auf das Jahr hochgerechnet angestiegen, wie aus den Angaben des FZD folgt. „Der Import von Sauermilchprodukten durch Russland machte im ersten Halbjahr des  Jahres 2020 68.800 Tonnen aus, was um 7,8 Prozent über den Werten des analogen Zeitraums des Vorjahres liegt“, erklärte man in der Vereinigung der Hersteller von Molkereiprodukten „Soyuzmoloko“.

Das Problem des geringen Selbstversorgungsgrades der Russischen Föderation in Bezug auf Milchprodukte haben auch die russischen Beamten selbst eingestanden. Der Grad der Selbstversorgung Russlands hinsichtlich dieser Erzeugnisse machte im Jahr 2019 83,2 Prozent aus, was um 6,8 Prozentpunkte unterhalb des Grenzwertes der Doktrin für die Lebensmittelsicherheit lag, wie man in der Vereinigung „Soyuzmoloko“ hin.

Gleichzeitig aber nimmt die Milcherzeugung im Land zu. Wie aus den Angaben von Rosstat folgt, sind entsprechend den Ergebnissen des vergangenen Jahres im Land 31,3 Millionen Tonnen Milch erzeugt worden. Dies ist natürlich mehr als im Jahr 2014, als im Land weniger als 30 Millionen Tonnen erzeugt wurden, aber erheblich unterhalb des Maximums von 2009, als 32,3 Millionen Tonnen Milch erzeugt wurden. 

Im Unterschied zu den Molkereiprodukten verspürt Russland hinsichtlich vieler anderer Kategorien von Erzeugnissen scheinbar keinen akuten Mangel. Beispielsweise ist die Einfuhr von Fleisch und Fleischprodukten, aber auch von Geflügel entsprechend den Ergebnissen der ersten sieben Monate dieses Jahres auf das Jahr hochgerechnet zurückgegangen, folgt aus den Angaben des FZD. Zum Vergleich: Innerhalb von sechs Jahren hat sich der Fleischimport mengenmäßig um etwa zwei Drittel verringert (siehe Printversion der „NG“ vom 21.07.2020 – https://www.ng.ru/economics/2020-07-21/1_4_7916_beaf.html). 

Russland habe die Zielwerte für die Lebensmittelsicherheit hinsichtlich aller entscheidenden Richtungen erreicht, erklärte Anfang September Viktoria Abramtschenko, Vizeregierungschefin für Landwirtschaftsfragen. Der Selbstversorgungsgrad des Landes in Bezug auf Getreide, Fisch und Fischprodukte habe die Parameter der Doktrin um das Anderthalbfache übertroffen, betonte sie.

Viele Experten sind sich aber in der Meinung einig, dass die Russische Föderation die Parameter aufgrund der Rubelabwertung, was den russischen Produkten geholfen hatte, erfüllen konnte. Experten der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst gestanden in ihrer Untersuchung zu den Ergebnissen der Importsubstitution ein, dass Schweinefleisch, Geflügelfleisch und Tomaten die einzigen Warengruppen seien, in denen eine Importsubstitution stattgefunden habe. Solch eine Schlussfolgerung stützten sie darauf, dass in den übrigen Gruppen entweder die Preise für die Produkte angestiegen und der Verbrauch zurückgegangen seien oder diese Importsubstitution dem Verbraucher sehr teuer zu stehen gekommen sei. Eine erhebliche Importersetzung erfolgte nur bei der Erzeugung von Fleisch und Fleischprodukten, von Pharma-Erzeugnissen und im metallurgischen Maschinebau, wurde in einer Übersicht des Zentrums für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognostizierung mitgeteilt. 

Wenn von einer Importsubstitution gesprochen wird, so ist das Problem der Selbstversorgung in erster Linie gerade bei der Erzeugung von Fleisch gelöst worden, erklären Experten gegenüber der „NG“. Dabei sei es, wie Prof. Wjatscheslaw Tscheglow von der Russischen Plechanow-Wirtschaftsuniversität meint, in Vielem durch eine Konsolidierung der Erzeugung in großen Agrar-Holdings gelöst worden. „Schwieriger ist es für die einheimischen Produkte, die Erzeugung von Milch und Milchprodukten in solchen Zeiträumen zu ersetzen“, fährt er fort. Es sei unmöglich, die Erzeugung von Milch genauso schnell wie die von Schweine- oder Hühnerfleisch zu steigern. „Gebraucht wird Zeit, um einen Tierbestand zu schaffen, der so viele Jahre verringert worden war“, betont der Wirtschaftsfachmann. Und damit könnten sich die großen Erzeuger befassen. Hier aber klärt alles das aktuelle kommerzielle Interesse. Schließlich ist Rindfleisch rentabler als Milch.

In den letzten fünf Jahren ist des dem russischen Agrar-Industrie-Komplex gelungen, keine schlechten Ergebnisse bei der Umsetzung der Strategie für die Lebensmittelsicherheit hinsichtlich der meisten Parameter zu erreichen, unterstreicht Alexander Borissow, Vorsitzender des Rates für die Entwicklung des Verbrauchermarktes in der Industrie- und Handelskammer der Russischen Föderation. „In Vielem haben dies die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen gefördert. Parallel erlaubten die Gegensanktionsmaßnahmen, Erfolge auch bei der Ersetzung von Lebensmittelimporten zu erzielen“, meint er. Der Experte lenkt aber auch das Augenmerk auf eine Überproduktion und einen Warenüberschuss in solchen Marktsegmenten wie Geflügel- und Schweinefleisch, Eier und Zucker.