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Über das Donbass-Thema im Kontext der Wahlen in Russland


Das ukrainische Thema ist wieder ins Zentrum der russischen Medienlandschaft geraten. Die OSZE-Beobachter fixieren dutzende Fälle von Verstößen gegen den Waffenstillstand im Donbass. Die nichtanerkannten Gebiete – die Donezker Volksrepublik und die Lugansker Volksrepublik – melden einen erneuten mehrfachen Beschuss und den Tod von Menschen. Die ukrainische Seite spricht von „Provokationen der Separatisten“. Im Internet tauchen Informationen mal über Bewegungen russischer Truppen zur Grenze auf, mal über den Appell Kiews an die NATO, im Falle einer „Aggression seitens Moskaus“ zu helfen, sowie über die Bereitschaft des Kremls, auf solch eine Hilfe zu antworten. Das Thema „Gegen einen Krieg mit der Ukraine“ fand sich auf einmal unter den populärsten auf Twitter wieder, obwohl es vor kurzem noch den Anschein hatte, dass es nach keinerlei Krieg aussah. Der Konflikt im Donbass ist in das Stadium einer andauernden Ungelöstheit übergegangen.

Die russischen Politiker greifen gern das ukrainische Motiv auf. Der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin rief beispielsweise Kiew auf, aufzuhören, die Situation rund um den Donbass anzuheizen. Andernfalls könnten die derzeitigen ukrainischen Herrschenden seiner Meinung nach „ihre politische Karriere in Den Haag beenden“.

Das Thema der Ukraine und des Donbass fügt sich in den gesamten Kontext des Konfliktes von Moskau mit dem Westen ein. Die russischen politischen Interpretatoren haben schon längst die Rollen in dieser Geschichte aufgeteilt. Nach ihrer Auffassung gebe es Russland, gebe es Washington mit seinen gegenüber der Russischen Föderation feindseligen Interessen, gebe es die „Marionetten“-Herrschenden in Kiew, und es gebe da Europa, dass zum Schaden seiner Interessen der Stimme der USA gehorche. Es könne sich aber noch der eigenen Interessen, die sich von den US-amerikanischen unterscheiden, und das ukrainische Regime verurteilen.

Die politische Praxis hat gezeigt, dass in Russland Narrative solcher Art ausgezeichnet vor Wahlen wirken und erlauben, den Akzent von der Wirtschaft auf äußere Feinde zu verlagern. Die sozial-ökonomische Situation in der Russischen Föderation bleibt aufgrund der Corona-Pandemie und anderer sich angehäufter Probleme eine turbulente und unvorhersehbare. Daher gelangt die Karte der Außenpolitik vor den Herbstwahlen zur Staatsduma sehr zupass auf den Tisch. Die Geschichte mit Nawalny, den Sanktionen, des Zurückholens des Botschafters aus den USA zwecks Konsultationen sowie dem Einfrieren der Beziehungen mit Europa – dies sind Teile eben jenes Narratives.

Das Problem besteht darin, dass sich die ukrainische Geschichte nicht vollends im Kontext der Konfrontation Moskaus und Washingtons auflösen kann und nicht ausschließlich als aktive Phase im geopolitischen Spiel wahrgenommen wird. Dies ist eine lebendige Wunde. Wenn das ukrainische Motiv erneut in der Medienlandschaft zu erklingen beginnt, wird die Frage nach dem Donbass zu einer aktuellen. Was tun mit den nichtanerkannten Republiken? Welche Schritte ist Russland zu gehen bereit? Moskau hatte zügig und mit Konsequenzen für sich die Krim-Frage gelöst, während die Einwohner der Lugansker Volksrepublik und der Donezker Volksrepublik, von denen viele das gleiche wollen wie auch die Krim-Bewohner, in einer vollkommenden Unbestimmtheit steckengeblieben sind. Ihre Staatlichkeit erkennt keiner offiziell an. Sie kehren nicht unter die Jurisdiktion Kiews zurück und kommen nicht unter die Jurisdiktion Moskaus.

Das Spielen mit dem Konflikt mit Washington vor den Wahlen verlangt von den russischen Offiziellen keinerlei radikale Handlungen. Dies ist einfach eine konsolidierende Rhetorik. Wenn aber das ukrainische Motiv anklingt, so gibt es wen, der an Entschlossenheit zulegt. Dies sind auch die Einwohner der Lugansker und der Donezker Volksrepublik, die russische Pässe erhielten und das Recht zu votieren haben. Dies sind auch die Kandidaten für die Wahlen vom Schlage eines Sachar Prilepins, die konsequent für eine Angliederung des Donbass plädieren. Entschlossenheit in diesem Fall bedeutet, dass Russland irgendeine Entscheidung hinsichtlich der nichtanerkannten Republiken treffen muss und nicht abwarten darf, bis Kiew die Minsker Abkommen erfüllt.

Das Donbass-Thema ist ein politisch toxisches. Seine potenzielle Entwicklung ordnet sich nicht dem Willen der Offiziellen unter, die scheinbar nicht vorgehabt hatten, die Frage in Bezug auf die Lugansker und die Donezker Volksrepublik in der überschaubaren Zukunft zu lösen, und es vorgezogen hätten, in dieser Richtung Raum für Manöver zu bewahren. Solch einen Dschinn vor den Wahlen freizulassen, ist nicht ungefährlich. Mit ihm fertig zu werden ist in keiner Weise einfacher als mit der sozial-ökonomischen und Pandemie-Tagesordnung. Der Gewinn kann sich als ein kurzfristiger erweisen, die Folgen aber — als schmerzhafte und unkontrollierbare.