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Über das Einimpfen eines patriotischen Gefühls


Der stellvertretende Vorsitzendes Föderationsrates (das Oberhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion) Konstantin Kosatschjow schrieb auf seiner Facebook-Seite bei einer Kommentierung der Entscheidung, bis zum 1. Juni die Flüge russischer Fluggesellschaft in die Türkei einzustellen, dass man die Ablehnung der Bürger der Russischen Föderation, in diesem Land Urlaub zu machen, als einen Akt staatsbürgerlicher Solidarität ansehen könne. Der Senator zitierte Worte des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der sich dieser Tage für einen „Schutz“ der territorialen Integrität der Ukraine ausgesprochen und die „Nichtanerkennung der Annexion der Krim“ erklärt hatte. Nach Aussagen Kosatschjows würden auf jeden „Türkei-Urlauber“ fünf Einwohner der Krim und Sewastopols kommen, die „Erdogan nicht für Bürger Russlands hält“.

„Ich hätte es so gern“, schrieb der Senator, „dass bereits nach solchen Erklärungen zumindest irgendein Teil, wenn nicht alle Urlauber es für sich entsprechend einer eigenen Entscheidung und nicht aufgrund gecancelter Flüge für moralisch unmöglich halten, in dem Land Urlaub zu machen, das die Rechte und Freiheiten von Millionen ihrer Mitbürger antastet… Gerade in solchen Situationen wird eine Nation in Bezug auf Patriotismus getestet, unabhängig von Urlaubsplänen“.

Bezeichnend ist das, wie unabgestimmt sich die russischen Offiziellen zu ein und denselben Fragen äußern. Der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, Dmitrij Peskow, erklärte beispielsweise am 13. April gegenüber Journalisten, dass es für das Verbot für Türkei-Flüge keinerlei politische Hintergründe gebe. Es gehe ausschließlich um den Schutz der Bürger vor neuen Stämmen des Coronavirus. Senator Kosatschjow aber äußert zur gleichen Zeit eine Meinung, mag es auch auf seiner persönlichen Seite in den sozialen Netzwerken sein, die nur die Gewissheit untermauert, dass die Entscheidung in Vielem eine politische war.

Russland hatte im Jahr 2014 die Krim angeschlossen. Erdogan hat weder damals noch jetzt die Halbinsel als eine russische anerkannt, wobei er offen seine Position signalisiert. Dies hatte weder die Touristen aus der Russischen Föderation gestört, die türkische Küste zu besuchen, noch Moskau, eine enge Freundschaft mit Ankara zu beginnen. Mehr noch, die russisch-türkischen Beziehungen so strategisch so stabil, dass sie stets zum Ausgangspunkt zurückkehren. Es hatte bereits sowohl brisante Widersprüche hinsichtlich Syriens als auch die Ermordung von Botschafter Andrej Karlow und den abgeschossenen russischen Kampfjet gegeben. Aber Moskau und Ankara versöhnten sich, der Touristenstrom wurde wiederhergestellt, und die Gespräche über den Patriotismus verstummten. Die Krim-Frage klammerte man jedoch aus.

Wenn man die Überlegungen von Senator logisch weiterführt, so dürften die Bürger Russlands nirgends außer in den Ländern Urlaub machen, die die Krim als einen Teil der Russischen Föderation anerkannt haben. Von denen gibt es ganz wenige. Und man möchte bei weitem nicht in jedes von ihnen fahren. Europa aber müsste jeder Bürger Russlands gemäß solch einer Logik aufgrund der Solidarität mit den Krim-Bewohnern für sich ausschließen. Die korrekteste Entscheidung wäre aus der Sicht des Patriotismus, Urlaub zu machen, ohne die Staatsgrenze zu überqueren. Auf der Datscha, am Baikal, in Karelien, im Altai. Auf der Krim!

Die Offiziellen, die die Bürger Russlands gegen COVID-19 vakzinieren, verschreiben ihnen gleichzeitig auch ein Einimpfen eines patriotischen Gefühls. Es ist nicht obligatorisch, aber sehr wünschenswert. Man kann sogar dazu nötigen, indem Flüge ins Ausland verboten werden. Der Mensch, dem man nicht das „Solidaritätsvakzin“ gespritzt hat, erfährt, dass 500.000 Bürger Reisen in die Türkei gekauft haben, und kann sich darüber freuen, dass die Tourismusindustrie im Land begonnen hat, wieder zu verdienen. Geld ist in den für die Wirtschaft notwendigen Umlauf gekommen. Ein Patriot aber schüttelt den Kopf: Das Problem ist ein ernsthaftes. Die Impfung ist jedoch im Maßstab des ganzen Landes notwendig.

Die Nötigung, nicht in die Türkei zu fahren, kann man als erste Einheit des Vakzins ansehen. Danach muss der Logik entsprechend eine Revakzinierung folgen. Wahrscheinlich nicht einmal eine. Es gibt genug Staaten in der Welt, die die Krim nicht als eine russische anerkennen. Es kann daher noch viele Verbote geben. Die staatsbürgerliche Solidarität muss sich im Menschen analog der Bildung von Antikörpern entwickeln. Und sobald die Abstriche in Bezug auf Patriotismus das nötige Ergebnis bringen, werden die Herrschenden mit ruhigem Gewissen den Bürger ins Ausland lassen. Sogar in jene Länder, die die Ukraine und nicht Russland unterstützen. Und wahrscheinlich wird dort der Mensch, der erfolgreich einen Patriotismus-Test gemacht hat, nicht nur Urlaub machen, sondern auch beispielsweise Immobilien besitzen können.