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Über den Entzug der Staatsbürgerschaft und Verfassungsprinzipien


Der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin schlägt vor, die Liste der Artikel des Strafgesetzbuches zu ergänzen, denen entsprechend man die russische Staatsbürgerschaft entziehen kann. Es geht um die Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation und die Wahrnehmung der Vollmachten durch die Staatsorgane, um „öffentliche Aufrufe zur Vornahme von Handlungen, die auf eine Verletzung der territorialen Integrität der Russischen Föderation abzielen“, aber auch um die Teilnahme an der Tätigkeit unerwünschter ausländischer Organisationen. Damit korrigiert der Präsident das noch nicht vom Parlament verabschiedete Gesetz „Über die Staatsbürgerschaft“, in dem es auch so eine ganze Liste von Gründen gibt, wegen denen eine Person den russischen Pass verlieren kann. Unter ihnen sind Extremismus-Aufrufe, die Organisierung eines bewaffneten Aufstands, die Schändung staatlicher Symbole usw.

Die sich ergebene politische Konjunktur erklärt die Ergänzungen des Präsidenten. Im Gesetz geht es um den Entzug der Staatsbürgerschaft für jene, die sie annehmen und nicht aufgrund der Geburt erhalten. Eine massenhafte Ausstellung russischer Pässe wird auf den jüngst an Russland angegliederten Territorien erwartet (wobei die künftigen russischen Staatsbürger auch einen Eid auf die Landesverfassung ablegen müssen – Anmerkung der Redaktion). Die russischen Offiziellen wollen augenscheinlich nicht, mit den neuen Regionen auch noch subversive, proukrainische Elemente bekommen. Von daher auch die Notwendigkeit der Präzisierungen. Vorgeschlagen wird, die erworbene Staatsbürgerschaft auch abzuerkennen.

In Russland sind jedoch die Rechtsanwendung und die Interpretierung des Rechts eine separate und sehr wichtige Richtung in der Tätigkeit der Herrschenden, in der sie mitunter recht schöpferisch die buchstäblich fixierten Gesetze, darunter auch die Normen der Verfassung entwickeln. Das Grundgesetz erlaubt den Bürgern beispielsweise völlig eindeutig, friedliche Versammlungen durchzuführen. In der Praxis aber können sie dies ohne eine Abstimmung mit örtlichen Behörden nicht tun. Und die geben sehr oft kein „grünes Licht“.

So ist es auch um die Frage über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft bestellt. Im Artikel 6 der Verfassung heißt es, dass einem Bürger der Russischen Föderation „seine Staatsbürgerschaft oder das Recht, sie zu ändern, nicht weggenommen werden kann“. Dort heißt es auch, dass „die Staatsbürgerschaft eine einheitlichen und gleiche unabhängig von den Grundlagen für den Erwerb ist“. Wird dieser Artikel des Grundgesetzes in solch einer Fassung aktuell und wirksam bleiben, wenn die Norm „Über die Staatsbürgerschaft“ mit den Präzisierungen des Präsidenten angenommen wird?

Die Verfassung kann nicht ausführlich beschreiben, wie sie unter jeglichen, sich ergebenden Umständen wirken kann. Sie gibt eher eine Handlungsphilosophie vor, legt Prioritäten für eine Interpretierung fest. Sich daran orientierend, kann man sich bei jeglicher Konjunktur bemühen, dem Geist der Verfassung zu folgen. Man kann auch anders handeln – sich der Konjunktur unterordnen, sich darauf berufen, dass das Grundgesetz lediglich eine allgemeine Auslegung der konkreten Situation vermittelt. In Russland beschreitet man sehr oft den zweiten Weg.

Die Bestimmung der Verfassung über die Unmöglichkeit, einem Menschen die russische Staatsbürgerschaft abzuerkennen, ist die Demonstration einer Ablehnung der sowjetischen Praxis. Ein Mensch hörte damals auf, ein Bürger der UdSSR aufgrund von Handlungen zu sein, die diesen hohen Ruf „diffamieren“. Dazu konnte man alles X-Beliebige rechnen – von der Arbeit für einen ausländischen Geheimdienst bis zur Veröffentlichung „falscher“ Bücher und Almanache, für das Inszenieren „falscher“ Stücke sowie für eine Unterstützung von Dissidenten und eine Menschenrechtstätigkeit. Die sowjetische Staatsbürgerschaft hatte man Alexander Solschenizyn und seiner Frau Natalia, Mstislaw Rostropowitsch, Galina Wischnewskaja, Alexander Ginsburg, Jurij Ljubimow, Wassilij Aksjonow und Eduard Limonow aberkannt.

Die Aufgabe solch einer Praxis ist Prinzip. Die russischen Offiziellen könnten ihr unbedingtes Festhalten an diesem Prinzip unterstreichen, wobei sie darauf verzichten, das Thema der Aberkennung der Staatsbürgerschaft selbst in den völlig neuen, schwierigen Situationen zu tangieren. Es scheint jedoch, dass die Herrschenden keine solche Einstellung und Philosophie vertreten. Wenn aber das Prinzip von Ausnahmen begleitet wird, von unterschiedlichen „Aber“, hört es allmählich auf, ein Prinzip zu sein. Das Reanimieren der sowjetischen Denk- und Handlungsformen erfolgt rasant. Wer kann garantieren, dass entsprechend den oben ausgewiesenen Artikeln – auf eine besondere Art und Weise – nicht auch jene nach irgendeiner Zeit die Staatsbürgerschaft verlieren werden, die sie aufgrund der Geburt erhalten haben?