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Über den hohen Grad der Besorgtheit unter Russlands Bürgern


Die kremlnahe Stiftung „Öffentliche Meinung“ (russische Abkürzung: FOM) fixiert zwei Wochen in Folge eine Zunahme der Besorgnis in der Gesellschaft. Von einer „besorgten Stimmung“ unter Verwandten, Freunden, Kollegen und Bekannten hatten anfangs 56 Prozent der Befragten gesprochen. Und danach 59 Prozent.

Die Werte für Ende November (die Angaben des Dezembers hat die Stiftung „Öffentliche Meinung“ noch nicht aufzuarbeiten geschafft) sind natürlich schwerlich mit dem zu vergleichen, was in der ersten Oktoberdekade der Fall gewesen war. Die empfundene Besorgtheit hatte einen Spitzenwert erreicht – 70 Prozent. Danach schwankte sie zwischen 56 und 63 Prozent. Und Anfang November verringerte sie sich radikal bis auf 49 Prozent, wobei sich dieser Wert beinahe mit dem Wert für die Ruhe (46 Prozent) deckte.

All diese Zeit war mit Ausnahme von zwei Wochen das Hauptereignis für die Befragten die militärische Sonderoperation geblieben, das heißt der Verlauf der Kampfhandlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Ende September-Anfang Oktober war die Teilmobilmachung an die erste Stelle unter den erwähnten Ereignissen gerückt. Die hatten die Soziologen als ein gesondertes Thema ausgewiesen. Gerade in dieser Zeit fixierte FOM die höchste Werte für die empfundene Besorgtheit. Ihr drastischer Rückgang wurde konstatiert, nachdem die Offiziellen den Abschluss der Teilmobilmachung verkündeten.

Warum ist es nicht gelungen, diese Werte in der zweiten Novemberhälfte zu bewahren? Warum haben sie erneut – wenn auch nicht drastisch – anzusteigen begonnen? Die von der Stiftung „Öffentliche Meinung“ veröffentlichten Daten erlauben nicht, dies mit irgendeinem konkreten Ereignis in Verbindung zu bringen, auf dass die Bürger hätten reagieren können. Beispielsweise spricht lediglich ein Prozent der Befragten von der Teilmobilmachung, unter anderem von der Möglichkeit einer „zweiten Welle“ oder einer „generellen Mobilmachung“. (Die Offiziellen dementieren vehement in der Öffentlichkeit solche Gerüchte, doch im Informationsbereich tauchen sie so oder anders auf.) Den Abzug der russischen Truppen aus Cherson erwähnten am häufigsten die Teilnehmer einer Befragung vom 11.-13. November. Aber gerade da hatte FOM eine drastische Verringerung der Werte für die Besorgtheit fixiert.

Es würde Sinn machen, jegliche beliebige Hypothese durch eine separate Untersuchung zu überprüfen. Die Soziologen nehmen sich aber in der letzten Zeit ungern solch einer Arbeit an. Man kann sie verstehen: Die Gesetzgebung wird ständig verschärft. Die Grenze zwischen Wissenschaft und der Veröffentlichung von Daten, die den neuen Normen widersprechen, wird leicht und schnell ausradiert.

Ende September war laut FOM-Angaben der Wert für die Besorgtheit von 35 bis auf 69 Prozent innerhalb einer Woche hochgeschnellt. Die Ursachen sind im Großen und Ganzen verständlich. Und genauso klar ist auch, dass das gesellschaftliche Bewusstsein, das kurze Gedächtnis der Gesellschaft keine Schallplatte ist, von der man Informationen entfernen und sie durch irgendetwas anderes ersetzen kann. Die Gesellschaft kann einfach nicht mit einem Schlage in den Sommerzustand zurückkehren, als bis zu 62 Prozent erklärt hatten, dass sie ruhig seien. Und dies vor dem Hintergrund dessen, dass die Sonderoperation fortgesetzt wurde, die Sanktionen nicht aufgehoben wurden und keine Verhandlungen mit Kiew erfolgten. Anders gesagt: Heute ist eine Besorgtheit mit einem Wert von mehr als 50 Prozent zu einer „neuen Normalität“ geworden. Um diese Werte zu drücken, braucht man Zeit, ist ein ruhiger Nachrichten-Hintergrund erforderlich.

Bei jeglichen Beziehungen mit den Herrschenden und bei jeglicher Angewohnheit, Vertrauen zu schenken, ist der soziale Organismus flexibel und vermag, das Regime der Selbsterhaltung zu aktivieren. Indem die Gesellschaft den hohen Grad an Besorgtheit bewahrt, bereitet sie sich psychologisch auf mögliche negative Nachrichten vor, auf überraschende Wendungen der Ereignisse. Selbst wenn jetzt direkt nichts passiert, selbst wenn die Menschen keinen Gerüchten und Fakes glauben. Die Gesellschaft hat in den letzten Jahren und gar Monaten Erfahrungen in Bezug auf Stress und irgendwo auch in Bezug auf Panik gesammelt. Jetzt hat sie scheinbar den Mechanismus eines Selbstschutzes, der Bereitschaft zu neuen Herausforderungen eingeschaltet.

Was bedeutet dies für die Herrschenden? Einerseits ist dies keine sehr gute Nachricht. Eine ruhige Gesellschaft bedeutet – in einem üblichen politischen Umfeld – ein hohes Niveau an Unterstützung. Andererseits funktionieren in Russland gelinde gesagt nicht immer diese Mechanismen, zumal bei einer Einstellung eines normalen politischen Lebens. Und FOM fixiert aber keine Transformation der Besorgtheit in Proteststimmungen. Die psychologische eigene Vorbereitung der Gesellschaft auf Stress-Situationen kann aber bedeuten, dass sie die Prüfungen, Sorgen und Entbehrungen leichter überstehen wird. Und für die Offiziellen wird es einfacher, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Die Schocktherapie war vielleicht gar nicht geplant gewesen, hat aber eine gewisse Wirkung erzielt.