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Über den psychologischen Selbstschutz der Gesellschaft


Laut Angaben des letzten allwöchentlichen Monitorings der kremlnahen Stiftung „Öffentliche Meinung“ beobachte ein großer Teil der Befragten (51 Prozent) bei den sie umgebenden Menschen eine „ruhige Stimmung“. Über Besorgnis sprechen 43 Prozent. Und dies ist somit der geringste Wert seit letztem September. Das Dominieren von Ruhe im Rating der Besorgtheit fixiert die Stiftung die vierte Woche in Folge.

Kann man denn von einer Korrelation der Werte für die Ruhe und der Besorgtheit mit den Ereignissen der Woche sprechen? Nicht selten erscheint solch eine Abhängigkeit eine offenkundige zu sein. Beispielsweise hatte im Zeitraum zwischen dem 18. und 25. September vergangenen Jahres die Besorgtheit drastisch zugenommen – von 35 bis 69 Prozent. Es ist schwer, dies nicht mit der in Russland am 21. September verkündeten Teil-Mobilmachung in Verbindung zu bringen. Gerade von der Mobilmachung als Hauptereignis hatten die Respondenten im Verlauf mehrerer Wochen gesprochen. Die Besorgtheit hatte auch im November und im Dezember angehalten. Obgleich allmählich der Grad der Besorgnis nachzulassen begann. Und der Wert für die Ruhe – zu steigen (von 26 Prozent Ende September bis 46 Prozent im Februar und März dieses Jahres).

Ein Umbruch, das heißt der Trend zu einem Dominieren der Ruhe, zeichnete sich bereits Ende Februar ab. Dies kann man damit verbinden, dass die besorgten Erwartungen im Zusammenhang mit der Jahresbotschaft von Präsident Putin an die Föderale Versammlung nicht aufgegangen waren. Er hatte weder eine weitere Mobilmachungswelle noch den Übergang der militärischen Sonderoperation Russlands in der Ukraine in irgendein neues Stadium bekanntgegeben. Die Jahresbotschaft war lange vorbereitet worden, ihr Termin zur Verkündung wurde die ganze Zeit verschoben. Das Warten und die Unklarheit vermochten den Grad der Besorgtheit aufrechtzuerhalten.

Jetzt aber – urteilt man entsprechend dem Monitoring der Stiftung „Öffentliche Meinung“ -dominiert die Ruhe als eine Stimmung. Dies erfolgt ungeachtet dessen, dass die Sonderoperation nicht abgeschlossen worden ist. Sie bleibt das Hauptobjekt für die Aufmerksamkeit der Befragten. 30 Prozent hatten in den einen oder anderen Formulierungen („ich verfolge nur den Donbass“, „die Säuberung der Ukraine von den Bandera-Anhängern“, „unsere Jungs kommen ums Leben“, „es wird eine Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte erwartet“) dies den Soziologen der Stiftung mitgeteilt. Dies sich vor noch einem Jahr oder gar vor einem halben Jahr vorzustellen, war schwierig gewesen. Es scheint aber, dass sich die Sonderoperation (die bereits in den 15 Monat gekommen ist) allmählich, wenn auch in einen recht besorgniserregenden, aber in einen Hintergrund für das tagtägliche, relativ gewohnte Leben verwandelt. Wenn es zu keinen Ereignissen vom Typ einer Teil-Mobilmachung kommt, die jede Familie unmittelbar betreffen können.

Das Echo der Besorgtheit blieb nach dem September/Oktober lange vernehmbar. Man hatte erwarten können, dass sich dies auf die langfristige Wahrnehmung der Realität, der Entscheidungen der Herrschenden durch die Bürger auswirken wird. Anders gesagt: Sie konnten auch im Weiteren unruhig und misstrauisch auf jegliche Initiativen reagieren, die die Sonderoperation oder den Militärdienst betreffen, und eine neue Mobilmachungswelle erwarten.

Eine solcher Initiativen sind die sogenannten elektronischen Einberufungsbescheide. Die Verabschiedung des entsprechenden Gesetzes war ein bedeutsames Ereignis des April. Im Informationsraum – vor allem im Internet – war es um diese Idee zu einem Kampf von Interpretationen gekommen. Die Offiziellen behaupten, dass es lediglich um eine Digitalisierung der Datenbanken der Militärkommissariate und eine Modernisierung deren Arbeit gehe. Diejenigen, die den Herrschenden nicht vertrauen, schreiben und reden darüber, dass „alles nicht einfach so geschehe, dass etwas vorbereitet werde (zum Beispiel eine erneute Mobilmachung). Dazu kommt, dass das Spektrum an Strafen bei Verletzung des neuen Gesetzes recht breit ist und in keiner Weise Vertrauen schafft.

Urteilt man anhand der Umfrage der Stiftung „Öffentliche Meinung“ hatten aber nur drei Prozent der Befragten dieses Ereignis für ein wichtiges gehalten. Es ist schwer zu sagen, ob denn viele die Einführung der elektronischen Einberufungsbescheide in den Kontext der Sonderoperation versetzten. Den Werten für die Ruhe und der Besorgnis nach zu urteilen, hat das neue Gesetz die September- und Oktober-Beunruhigung nicht aktualisiert. Der Start-Mechanismus für die Besorgtheit hat nicht funktioniert (oder die Befragten haben den kremlnahen Soziologen nur eine Meinung vorgegaukelt – Anmerkung der Redaktion).

Man kann sagen, dass die russische Gesellschaft ein Kurzzeitgedächtnis hat. Man kann aber auch sagen, dass in sorgenreichen Zeiten eine der Formen für einen psychologischen Selbstschutz das Verdrängen negativer Informationen ist. Bevorzugter ist die Akzeptanz positiver oder neutraler Interpretationen. Es wirkt sich auch aus, unter wem die Umfrage durchgeführt wird. Dies sind Menschen, die in Russland bleiben und bereit sind, ihre Meinung den Soziologen mitzuteilen. Im Großen und Ganzen interessieren auch gerade dieses Segment, dessen Stimmungen und der Grad der Besorgtheit die Herrschenden – in erster Linie. Auf dieses stützen sie sich gewöhnlich auch.