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Über den Überfall auf Milaschina und Nemow und die Unerschütterlichkeit der Rechte von Russlands Bürgern


Der Überfall auf die Journalistin Jelena Milaschina und den Anwalt Alexander Nemow am vergangenen Dienstag hat eine recht rasche Reaktion der Offiziellen aller Ebenen ausgelöst – von Abgeordneten der Staatsduma (dem russischen Unterhaus – Anmerkung der Redaktion) und der Menschenrechtsbeauftragten Russlands bis zum Chef des Untersuchungskomitees und Dmitrij Peskow. Der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation erklärte, dass die Rechtsschutzorgane den Vorfall bewerten müssten, „es geht aber unbedingt um einen sehr ernsthaften Überfall, der recht energische (Antwort-) Maßnahmen erfordert“. Das Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, bezeichnete das Geschehene als eine dreiste Diversionsprovokation gegen die Republik und versprach, sich Klarheit zu schaffen sowie die Verbrecher zu ermitteln (wie dies aussehen wird, kann man sich anhand der Aufklärung der Ermordung der Milaschina-Kollegin Anna Politkowskaja im Jahr 2006 durchaus vorstellen – Anmerkung der Redaktion).

Der Staatsduma-Abgeordnete Alexander Chinstein (von der Kremlpartei „Einiges Russland“ und selbst einstiger Journalist der Zeitung „Moskowskij Komsomolez“ – Anmerkung der Redaktion) erklärte, dass „Überfälle auf Journalistin ungeachtet ihrer Position verbrecherisch und unzulässig sind“. Er hatte sich als einer der ersten zu Wort gemeldet. Symptomatisch ist, dass er einen Vorbehalt hinsichtlich der Position von Journalisten machen muss. Jelena Milaschina arbeitete in einem Medium („Nowaja Gazeta“), dass in Russland faktisch geschlossen worden ist. Den Offiziellen unterschiedlicher Ebene, darunter auch Oberhäuptern einzelner Subjekte der Föderation, hatten ihre Veröffentlichungen – gelinde gesagt – nicht gefallen. Aber darin besteht schließlich nichts Ungewöhnliches für ein demokratisches Land, das Russland zumindest entsprechend der Verfassung ist. Journalisten können jedem beliebigen nicht gefallen, doch dadurch verlieren sie nicht die Bürgerrechte.

Nach Aussagen von Russlands Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa „müssen die Schuldigen der Handlungen, die das Leben von Bürgern bedrohen, bestraft werden“. Das Wort „Bürger“ ist hier das wichtigste. Im Artikel 2 Verfassung der Russischen Föderation heißt es, dass „die Anerkennung, die Einhaltung und die Verteidigung der Rechte und Freiheiten des Menschen und Staatsbürgers eine Pflicht des Staates sind“. Gemäß Artikel 18 des russischen Grundgesetzes würden die Rechte und Freiheiten des Menschen und Staatsbürgers „die Tätigkeit der gesetzgeberischen und exekutiven Gewalt“ bestimmen. Das Recht auf das Leben und das Recht auf die Gesundheit werden durch die Verfassung garantiert.

Ein Abgehen von den Standards der generellen Sicherheit, die allen und jedem einen Schutz des Lebens und der Gesundheit garantiert, ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Man kann es nicht mit Verweisen auf Gesetzen in jeglicher Interpretation rechtfertigen. Wenn man solch einen Fall ausbremst, kann man vom Präzedenzfall der Entfernung eines konkreten Falls, einer konkreten Situation bzw. von konkreten Menschen aus dem Bereich der garantierten Rechte und Freiheiten sprechen. Die Verfassung macht keine Ausnahmen in Abhängigkeit von politischen Anschauungen. Sie unterteilt die Bürger nicht nach Kategorien – „diese muss man stets verteidigen, diese aber nicht unbedingt“.

Die Aussagen der Gesetzgeber zum „Fall von Milaschina und Nemow“ sind wichtig. Aber nicht weniger bedeutsam ist auch ihre tagtägliche Arbeit. Im Jahr 2020 hatte man bei einem Referendum Verfassungsänderungen angenommen. Nicht eine von ihnen tangierte die grundlegenden Rechte und Freiheiten der Bürger. Man hatte sie auch nicht nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation aufgehoben. Das heißt, alle Bürger Russlands (und eine entsprechend der Geburt erworbene Staatsbürgerschaft kann man gemäß dem Grundgesetz nicht wegnehmen) bleiben im Rahmen der Verfassung, im Bereich der Garantien, die ihnen der Staat gibt.

Dabei gibt es den Buchstaben und sogar den klar festgeschriebenen Gedanken der Verfassung. Und es gibt einen Geist der zu verfassenden und zu verabschiedenden Gesetze, einen Geist der Rechtsanwendung, einen Geist der Verfolgungs- und Gerichtspraxis. Nicht selten ist dies ein Geist der Trennung, eines Aufteilens. Es gibt beispielsweise Bürger, die ihre Haltung hinsichtlich der Handlungen der Offiziellen nicht öffentlich bekunden, sie akzeptieren oder billigen und unterstützen. Es gibt aber auch sozusagen „andere“ Bürger, die nicht mit den Herrschenden einverstanden sind. Früher mussten ihre Äußerungen geduldet werden. Heutzutage ist es leichter geworden, ihnen sich zu äußern zu verbieten. Dabei spricht man unter der exekutiven und der gesetzgeberischen Gewalt über solche Bürger wie über ausländische Söldner, Agenten, Spione, Landesverräter oder Feinde.

Derart ist der Geist der Praxis. Und wenn ein Überfall auf kritisch gegen die Herrschenden eingestellte Journalisten, Menschenrechtler und Anwälte passiert, muss die Gesellschaft beinahe daran erinnert, dass dies ebenfalls Bürger Russlands sind. Sie besitzen das komplette Spektrum an Verfassungsrechten. Und die muss man verteidigen!