Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, erklärte gegenüber Journalisten, dass in Russland von einer völligen oder teilweisen Mobilmachung von Wehrpflichtigen „keine Rede ist“. Man frage ihn darüber nicht das erste Mal. Während im Mai die Medien auf Publikationen ausländischer Medienvertreter reagiert hatten, so jetzt – auf Äußerungen von Abgeordneten aus der Staatsduma (das Unterhaus des russischen Parlaments – Anmerkung der Redaktion).
So hatte beispielsweise das Mitglied des Duma-Sicherheitsausschusses Michail Scheremet (ehemaliger ukrainischer Politiker und nun Mitglied der Kremlpartei „Einiges Russland“) erklärt: „Ohne eine vollständige Mobilmachung, eine Umstellung auf militärische Gleise, darunter auch der Wirtschaft, werden wir nicht die erforderlichen Ergebnisse erreichen. Ich spreche davon, dass die Gesellschaft heute auf maximale Weise und zielgerichtet auf einen Sieg konsolidiert sein muss“. Der Abgeordnete Scheremet vertritt die Krim (die seit 2014 russisch ist – Anmerkung der Redaktion), was wohl in erheblichem Maße die Geradlinigkeit seiner Aufrufe erklärt. Vom Wesen her schlägt er vor, das Land auf einen Kriegszustand umzustellen. Es ist schwer, dies irgendwie anders zu bezeichnen.
KPRF-Chef Gennadij Sjuganow trat bei der ersten Duma-Plenarsitzung der Herbsttagungsserie nicht weniger markant auf. Beispielsweise verwendete er, als er über die Situation in der Ukraine sprach, mehrfach ein Wort, dass die russischen Medien nicht zu verwenden riskieren, um sich nicht Sanktionen der Aufsichtsbehörde für die Medien, das Internet und Fernmeldewesen Roskomnadzor einzuhandeln. Sjuganow jonglierte allerdings geschickt mit diesem Wort. Er erklärte, dass die USA, das vereinte Europa und die NATO Russland einen Krieg erklärt hätten, indem sie sich in die ukrainischen Ereignisse eingemischt hätten. Nicht ein einziger normaler Mensch in Russland könne nach seiner Meinung dem nicht beipflichten, daher „sind eine maximale Mobilisierung von Kräften und Ressourcen, ein Zusammenschluss der Gesellschaft und eine exakte Bestimmung der Prioritäten erforderlich“.
In der Partei beeilte man sich nach dem Auftritt des Chefs zu versichern, dass Sjuganow „in erster Linie eine Mobilisierung der Wirtschaft, des politischen Systems und von Ressourcen“ gemeint hätte. Wie dem nun auch immer sein mag: Sowohl das Wort „Mobilisierung“ als auch die Wortverbindung „militärische Gleise“ erklangen in den Auftritten der Volksvertreter. Dies kontrastiert etwas mit dem, wie die russischen staatlichen oder staatsnahen Massenmedien den Verlauf der Sonderoperation darstellen, wie darüber hochrangige Figuren sprechen. Sie versichern den Bürgern, dass die Ziele und Aufgaben der Sonderoperation in der Ukraine konsequent erfüllt werden (wobei kein Wort über den Preis dieses Abenteuers genannt wird – Anmerkung der Redaktion). Und wenn man die Auftritte der Abgeordneten nicht als eine Kritik des offiziellen Standpunkts ansieht, was ist dies dann aber? Durch was ist solch ein drastischer Übergang in der öffentlichen Rhetorik von „alles läuft nach Plan“ zu „Mobilisierung von Kräften und Ressourcen“ ausgelöst worden? Und wieso erfolgt kein Gerede über irgendwelche Zwischenstadien? In Russland gibt es beispielsweise Millionen von Vertretern der Sicherheits- und Rechtsschutzorgane, ohne dabei die Armee mitzuzählen. Sie legen einen Fahneneid ab, erhalten eine üppige staatliche Finanzierung. Warum also soll die Mobilmachung gleich eine „vollkommene“ sein?
An Interpretationen für die Aussagen der Abgeordneten kann es viele geben – von einer Überprüfung der öffentlichen Meinung bis zum Bestreben der Parteien und einzelner Abgeordneter, ihr „Ich“ im sich veränderten Kontext zu markieren. Zu diesen Äußerungen muss man sich aber ernsthaft verhalten: Zu Jahresbeginn hatte die KPRF zum Beispiel gefordert, die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken DVR und LVR anzuerkennen. Der Kreml hatte daraufhin die Kommunisten zurückgepfiffen. Doch bald danach handelte er entsprechend ihrer Aufrufe. Und die Präzisierungen in der Art „Sjuganow hatte nur von der Wirtschaft gesprochen“ dürfen nicht in die Irre führen lassen. Die Ressourcen, die der Kommunisten-Führer zu mobilisieren vorschlägt, erfassen unweigerlich auch die Menschen, die in den normalen, modernen marktwirtschaftlichen Prozess involviert sind.
Eine Überführung der Wirtschaft auf militärische Gleise, worüber Michail Scheremet sprach, bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen aus dem gewohnten Lebens- und Produktionszyklus herausgerissen werden. Sie werden einberufen und entsprechend den Bedürfnissen der Armee verteilt. Und das Land verpflegt und kleidet sie ein und bewaffnet sie. Eingeschränkt wird die Bewegungsfreiheit, das Privateigentum wird zu einem angenommenen Begriff: Das Auto, das Haus, die Wohnung – all dies kann für militärische Bedürfnisse erfasst, besetzt und expropriiert werden. Dies sind lediglich allgemeine Konturen, ohne eine Detaillierung.
Man darf nicht verantwortungsbewusst zu einer Mobilmachung aufrufen, ohne alle Konsequenzen eingeschätzt zu haben. Den Abgeordneten fällt es aus irgendeinem Grunde leicht, derartige Initiativen zu verkünden. Es ist aber schwer, sich einen Kandidaten für das Amt eines Abgeordneten vorzustellen, der mit solchen Vorschlägen ins Volk gehen würde.