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Über die „Bolschewisierung“ der politischen Stimmungen in Russland


Die kremlnahe Stiftung „Öffentliche Meinung“ veröffentlicht wöchentlich Ergebnisse ihrer ermittelten politischen Ratings. Die letzten Daten – mit Stand vom Ende Juli – vermögen kaum in Erstaunen zu versetzen. Aber mit Blick auf die Distanz sind interessante Tendenzen auszumachen.

So haben laut Angaben der Stiftung im Zeitraum vom August bis einschließlich November des Jahres 2021 zwei Parteien eine spürbare Zunahme der positiven Haltung für sich durchgemacht – die KPRF und „Neue Leute“. Der ausgewiesene Zeitraum entspricht der Zeit der Duma-Wahlkampagne und erfasst auch die ersten Monate nach den Wahlen. Die Partei „Neue Leute“ hatte es bis dahin im Großen und Ganzen im öffentlichen politischen Raum nicht gegeben. Mit einem Mal schafften sie den Sprung in die Staatsduma, folglich ist die Zunahme verständlich. Was die Kommunisten angeht, so sind sie ein traditioneller Aggregator von Gegenstimmen als angesehenste und stabilste der oppositionellen Parteien. Im Oktober des Jahres 2021, das heißt auf der nach den Wahlen folgenden Welle, waren 17 bis 18 Prozent der Befragten bereit, für sie zu votieren, wie die Stiftung „Öffentliche Meinung“ ermittelte. Schaut man auf das ganze Jahr, ist dies ein Spitzenwert für die Kommunisten.

Bemerkenswert ist, dass sich im Rating der Kremlpartei „Einiges Russland“, die entsprechend den Ergebnissen der Parlamentswahlen erneut eine verfassungsmäßige Mehrheit im Unterhaus erlangt hatte, im gleichen elektoralen Zeitraum keinerlei drastische Veränderungen vollzogen hatten. Das Rating der von Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew angeführten Partei hielt sich auf dem stabilen Stand von 29 bis 30 Prozent. Unter den Bedingungen einer Kampagne ohne eine spektakuläre Agenda oder ein Hauptkonfliktthema reichte dies für einen sicheren Sieg. Innerhalb eines Jahres vollzog sich für „Einiges Russland“ nach dem 24. Februar ein Sprung im Rating – von 32 bis auf 41 Prozent und weiter noch mehr – bis auf 45 Prozent. Die Werte für eine positive Haltung zur dominierenden Partei sind in dieser Zeit auch in die Höhe gegangen – von 36 bis auf 52 Prozent. All dies ereignete sich, als sich eine politische Tagesordnung ergeben hatte, die sehr konfliktbeladen ist und sich um die Konfrontation mit dem Westen entfaltete sowie einen endgültigen Sieg über „die Feinde“ im Land vorsah.

Urteilt man anhand der Umfrage der Stiftung „Öffentliche Meinung“, hat keine andere Partei aus dieser sich plötzlich ergebenden Agenda einen Nutzen gezogen. Weder die LDPR, die den Tod ihres langjährigen Führers Wladimir Schirinowskij noch nicht verdaut hat und sich dennoch stets komfortabel auf dem Gebiet des außenpolitischen Populismus fühlte, als auch die Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“, in der die Anhänger des Schriftstellers Sachar Prilepin mit ihrem konservativen und neoimperialen Projekt sowie mit dem Appell, den Donbass anzugliedern, zu den Wahlen angetreten waren. Aber auch nicht die Kommunisten, die im Winter dieses Jahres, noch vor der berühmten Sitzung des russischen Sicherheitsrates, aufgerufen hatten, die Donbass-Republiken DVR und LVR anzuerkennen.

All diese Parteien waren scheinbar ideologisch zur neuen Konjunktur bereit. Sie alle sind Bestandteile des „patriotischen“ Duma-Konsens. Die bereits den 168. Tag andauernde Sonderoperation hat ihnen aber keine politischen Punkte eingebracht. Den letzten Erhebungen der Stiftung „Öffentliche Meinung“ nach zu urteilen, ist das Rating der Kommunisten bis auf acht Prozent abgesackt. Das heißt Ende Juli war gerade solch ein Prozentsatz der Befragten bereit gewesen, für die Partei von Gennadij Sjuganow zu stimmen. Nach den Wahlen von 2021 erreichte dieser Parameter bis zu 18 Prozent. Zum Vergleich: Für eine Unterstützung zugunsten von „Einiges Russland“ hatten sich Ende Juli 42 Prozent der Befragten ausgesprochen.

Die russische Sonderoperation in der Ukraine und die zugespitzte außenpolitische Lage haben den zum System gehörenden Parteien nicht geholfen, Punkte zu sammeln. Einmal abgesehen von „Einiges Russland“. Sie haben eher jegliche politische Struktur – mit Ausnahme der regierenden Kremlpartei – an den Rand eines Überlebens gebracht. Die Patriotismus-Deklarationen und das Wetteifern im populistischen Gesetzesschaffen (das freilich nichts mit den tatsächlichen Interessen der russischen Bevölkerung, sondern nur mit dem Machterhalt des gegenwärtigen Regimes im Land zu tun hat – Anmerkung der Redaktion) – all dies muss man wohl als Zeichen bzw. Signale ansehen, die die systemkonforme Opposition unter den sich veränderten Bedingungen den Offiziellen sendet. Sie versuchen, entsprechend den neuen Regeln zu spielen und damit das Eigene zu bewahren, aber keine zusätzliche Unterstützung der Gesellschaft zu erhalten.

Nach den Wahlen des vergangenen Jahres hatte es den Anschein gehabt, dass sich Bedingungen für ein kontrollierbares, gedanklich gehaltvolles Mehrparteiensystem herausbilden. Die von Präsident Putin befohlene Sonderoperation hat aber das politische Leben in Richtung eines faktischen Einparteiensystems umgelenkt. Man kann sogar sagen – in Richtung einer „Bolschewisierung“ der politischen Stimmungen, einer „Bolschewisierung“ der Herangehensweisen an die Lösung schwieriger Probleme. In der russischen Geschichte erfolgt so etwas nicht das erste Mal. Eine Teilnahme an militärischen Konflikten oder Sonderoperationen eines begrenzten oder unbegrenzten Kontingents unserer Truppen führt zu innenpolitischen Einfrier-Prozessen, zu einer Gleichschaltung des Diskurs, einer Bolschewisierung des Bewusstseins sowie einer bolschewistischen Entschlossenheit, Direkt- und Einfachheit.