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Über die Erweiterung des Kreises der „Verräter“ in den Augen der Offiziellen


Der Vorsitzende der Staatsduma der Russischen Föderation, Wjatscheslaw Wolodin, hat bei einem Auftritt bei Forum „Territorium der Gedanken“ erklärt: „Derjenige, der diese Zeit überstehen und in warme Länder ausreisen wollte und von dort dies alles beobachtet, muss verstehen – er ist ein Verräter“. Unter „diese Zeit“ und „dies alles“ sind die Sonderoperation in der Ukraine und alles, was damit zusammenhängt, gemeint. Nach Aussagen des Staatsduma-Chefs hätten 100 Prozent der Duma-Fraktionen die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken DVR und LVR unterstützt. Und „derjenige, der sie nicht unterstützte, der ist nicht mit dem Volk“.

Hinsichtlich aller letzten Umfragen des kremlnahen Allrussischen Meinungsforschungszentrums VTsIOM ist der Anteil jener, die bei den Wahlen zum Unterhaus des Landesparlaments für die außerparlamentarischen Parteien stimmen würde, stabil höher als der Prozentsatz derjenigen, die die LDPR, „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ und „Neue Leute“ unterstützen. Es ist schwer zu sagen, wie sich diese Parteien, die nicht in die Duma gelangten, verhalten würden, wenn sich für sie die Frage nach einer Anerkennung der Donbass-Republiken ergeben würde. Vielleicht würden sie sie auch unterstützen. Unter Berücksichtigung der aktuellen Soziologie wird man jedoch wohl kaum ein Gleichheitszeichen zwischen „außerparlamentarisch“ und „volksfeindlich“ setzen können.

Auf jeden Fall macht es Sinn, sich gegenüber den Worten von Wjatscheslaw Wolodin (Kremlpartei „Einiges Russland“), mögen sie auch nicht von der Duma-Tribüne aus formuliert worden sein, ernsthaft zu verhalten. Und die „Abwartenden“ werden dies sicherlich auch tun. In Russland werden Gesetze, besonders jetzt, sehr schnell verabschiedet, korrigiert und verschärft. Sie werden nicht durch ein kritisches Prozeduren-„Sieb“ gefiltert. „Verräter“ ist bisher noch kein Wort aus dem gesetzgeberischen Wörterbuch. In dem gibt es aber beispielsweise (das Wort) „Landesverrat“. Und vor kurzem hatte man in der Duma schon vorgeschlagen, die Sportler, die beschlossen haben, die Staatsbürgerschaft zu wechseln, Landesverrätern gleichzusetzen (allerdings hat man diese Initiative bisher nicht unterstützt).

Wichtig ist das, dass sich die Rhetorik der herrschenden Elite (und der Chef der Staatsduma gehört zu ihr) verschärft. Es macht Sinn, sich dessen zu erinnern, wie Anfang April Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, erklärte, dass es Menschen gebe, die „Angst bekommen haben“ und den Sinn des Geschehens, das heißt der Sonderoperation „nicht verstanden haben“. Sie seien ausgereist. Und sie seien nach Worten Peskows „keine Staatsfeinde“. Augenscheinlich ist es jetzt angebracht, nach Verstreichen von vier Monaten und nach dem Auftritt des Staatsduma-Vorsitzenden den Pressesekretär des Präsidenten zu fragen, ob sich nicht der offizielle Standpunkt hinsichtlich der Frage nach den Ausgereisten geändert hat.

Früher verwendeten die Machtvertreter selten das Wort „Verräter“. Wladimir Putin bezeichnete im Jahr 2018 den ehemaligen Oberst der Hauptverwaltung für Aufklärung (der russischen Armee), Sergej Skripal, als einen „Landesverräter“. Später wiederholte er seine These und entwickelte sie in einem Interview für die Zeitung „The Financial Times“. Putin unterstrich, dass Verrat das „gemeinste Verbrechen“ sei, „dass man sich vorstellen kann“. Damals konnte der Eindruck entstehen, dass der Präsident so scharf gerade auf einen Fall von Verrat innerhalb der Korporation der Geheimdienstler reagierte, der er selbst einst angehört hatte. Wahrscheinlich ist dem zum Teil auch so gewesen. Putin hatte noch lange zuvor, im Kontext des Beitritts der Krim, den Begriff „Nationalverräter“ hinsichtlich der „5. Kolonne“ verwendet, die nach Vorgaben des Westens innerhalb des Landes agiert. Aber auch dies konnte man als einen Teil des Diskurses der Geheimdienste, der Vertreter der Rechtsschutzorgane ansehen: Die „5. Kolonne“ seien eben jene eigentlichen Agenten, die untergrabenden Elemente. Und bereits im Jahr 2022 hat Putin, der von „Nationalverrätern“ spricht, die das Volk „wie eine Fliege ausspuckt“, den Kreis der Feinde und Verräter nicht erweitert, indem er alle „Ausgereisten“ in ihn aufnahm.

Wird sich aber dieser Kreis jetzt erweitern? Diejenigen, die „abwarten“, werden sich noch einmal gehörig darüber Gedanken machen, ob sie zurückkehren sollten oder nicht. Und ganz und gar nicht, weil sie „Verräter“ sind. Befürchtungen hat bei ihnen unter anderem das Nichtverstehen der Regeln ausgelöst, denen entsprechend das Land jetzt leben wird. Die Unvorhersehbarkeit der Veränderungen, deren offensichtliche Ausrichtung auf den Konflikt, die Verschärfung und Einschränkungen. In diesem Sinne hat sich innerhalb eines halben Jahres wenig verändert. Doch die Äußerungen von Vertretern der Machtorgane über „abwartende Verräter“ werden wohl die generelle Besorgtheit aufheben. Während die Menschen früher nicht verstanden hatten, ob sie auch weiterhin in Russland wie früher leben und arbeiten können, so spüren sie jetzt einfach, dass man sie hier nicht sehen will.