In Russland wird eine Zunahme der Coronavirus-Erkrankungen fixiert. Die neue Welle, die am Freitag mit 49.513 gemeldeten neuen Erkrankungsfällen einen traurigen Rekord seit Beginn der Pandemie erreichte, hängt offensichtlich mit dem Omikron-Stamm zusammen, obgleich er noch nicht dominiert. Die Wissenschaftler versuchen, nicht nur den Höhepunkt dieser Welle vorauszusagen, sondern auch den ungefähren Zeitraum für das Ende der Pandemie, das heißt den Moment für den Anbruch solch einer Zeit, in der COVID mit dem Menschen in solch einem Regime wie auch andere Viren existieren wird.
Die Soziologen schauen gleichfalls in die Zukunft. Die Moskauer Stiftung „Öffentliche Meinung“ (FOM) führte eine Umfrage durch, die dem Leben nach der Pandemie galt. Lediglich 18 Prozent der Befragten erklärten, dass sie nach der Pandemie nicht so wie vor ihr leben werden. Dies sind um sechs Prozent weniger als vor einem Jahr. Dabei scheinen die Antworten auf die präzisierende Frage, durch was konkret sich das Leben jener, die solch eine Auffassung vertreten, unterschiede, die interessantesten zu sein. Am meisten sprachen die Befragten von einer Aufhebung der Einschränkungen, einer Rückkehr der Bewegungsfreiheit, einer Erhöhung des Lebensniveaus, der Verbesserung der Situation mit der Arbeit und darüber, dass es „einfach besser wird“.
Anders gesagt: Die Befragten gehen in ihren Erwartungen schon nicht mehr vom früheren, sondern vom aktuellen Leben aus, von der „neuen Normalität“. Ende des Jahres 2020 hatten laut FOM-Angaben 46 Prozent der Befragten gesagt, dass das Lebensniveau nach der Pandemie geringer sein werde als vor ihr. Jetzt geben nur 28 Prozent solch eine Antwort. Von sieben bis auf dreizehn Prozent hat sich der Anteil derjenigen vergrößert, die eine Erhöhung des Lebensniveaus erwarten. Diesen Optimismus kann man wohl kaum mit einer Feststimmung oder einer effektiven Sozialpolitik der Herrschenden, die die Bürger bewerten, erklären. Man sollte wohl eher von der psychologischen Wirkung der sich in die Länge gezogenen Pandemie und der einschränkenden Maßnahmen sprechen. Vor einem Jahr hatten sich die Menschen noch sehr gut daran erinnert, wie es vor dem Kommen von COVID-19 gewesen war. Noch ein Jahr ist ins Land gegangen, und sie haben sich mit der anormalen Realität abgefunden, dass man jegliche Zukunft konstruiert, wobei man gerade von ihr, dieser Realität ausgeht.
Dies bedeutet nicht, dass die Bürger Russlands, die von den Soziologen befragt werden, ein Kurzzeitgedächtnis haben. Die Pandemie ist einfach zu einem wahren Schock geworden. Ihre Wirkung ist eine Verzerrung des Bildes von der Vergangenheit sowie der Schwierigkeiten bei ihrer Wiederherstellung bzw. bei ihrem Rekapitulieren. 48 Prozent der Teilnehmer der FOM-Umfrage erklärten, dass sich insgesamt das Leben in Russland nach der Pandemie nicht spürbar vom Leben vor ihr unterscheiden werde. Wenn die Frage durch sie richtig verstanden wurde, wenn sie wirklich die zu projektierende Zukunft mit der rekapitulierten Vergangenheit und nicht mit der Gegenwart verglichen, so ergibt sich, dass fast die Hälfte der Befragten nicht sieht, wie die Pandemie das gesellschaftliche, das Wirtschaftsleben verändert. Sie sind nicht der Auffassung, dass die kollektiven Schockerfahrungen geholfen haben, irgendwelche neuen sozialen Praktiken durchzusetzen. Es sei genug. dass das Gesundheitsministerium und die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadzor „grünes Licht“ geben, und alle alten Systemeinstellungen würden wiederhergestellt werden. Es ist aber allerdings keine Tatsache, dass sich diese 48 Prozent genau an diese Einstellungen, diese Settings erinnern werden.
Bemerkenswert ist auch das, wie die Bürger die Frage nach dem Vertrauen in die Ärzte nach der Pandemie beantworteten. Lediglich 14 Prozent erklärten, dass sie mehr Vertrauen würden. Vor einem Jahr machte dieser Anteil 22 Prozent aus. Von 15 bis auf 21 Prozent vergrößerte sich der Anteil jener, die annehmen, dass man den Ärzten weniger vertrauen werde. Diese Zahlen sind erstaunlich unter Berücksichtigung sowohl der sozialen Werbung als auch des objektiven und unbestrittenen Beitrags der Mediziner zur Bekämpfung der Pandemie.
Ist dies ein Undank? Eher wohl noch eine emotionale, eine psychologische Wirkung der sich in die Länge gezogenen Pandemie. Die Menschen sind durch die Einschränkungen müde geworden. Jegliche, selbst kurzzeitigen Maßnahmen sind völlig unpopulär, wie rational sie auch sein mögen. Die Mediziner werden wahrscheinlich als eine gewisse Kaste von „Beschränkern“, als Vertreter einer Repressalien durchsetzenden Klasse. Dies zum einen. Andererseits hat die Pandemie ein ernsthaftes Problem in der Gesellschaft offenbart. Ein massenhaftes Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und Medizin. Die Auffassungen darüber, dass die Dimensionen der Epidemie künstlich aufgeblasen werden, dass es eine gewisse Verschwörung der Pharma-Konzerne gebe, bleiben verbreitete und populäre. Die Statistik der Todesfälle beeindruckt die Menschen nicht. Indem sie sich nicht impfen lassen und anderen anraten, ihrem Beispiel zu folgen, schieben sie allerdings den Beginn der Post-COVID-Zukunft auf die lange Bank.
P.S. der Redaktion „NG Deutschland“
Am Freitag legte das staatliche Meinungsforschungsinstitut VTsIOM neue Zahlen vor, wonach 60 Prozent der Bürger Russlands annehmen, dass die russischen Offiziellen ausreichende und gar überschüssige Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Verbreitung von COVID-19 ergreifen. Derweil sind 34 Prozent der Befragten einer am 19. Januar vorgenommenen entsprechenden Umfrage der Meinung, dass die Anti-COVID-Maßnahmen unzureichende seien. Dementsprechend fallen auch die Zahlen bei der Bewertung der Effektivität dieser Maßnahmen aus. 62 Prozent der Bürger Russlands denken, dass sie effizient seien, 34 Prozent vertreten eine entgegengesetzte Auffassung. Überraschend ist gleichfalls, dass 42 Prozent der Befragten erklärten, dass sie keinerlei Einfluss der Anti-Corona-Restriktionen auf ihr Leben verspürt hätten. 39 Prozent antworteten den VTsIOM-Soziologen, dass die Restriktionen einen unerheblichen Einfluss ausgeübten hätten. Und 18 Prozent meinten, sie hätten einen spürbaren Einfluss auf sie ausgeübt.