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Über die geopolitischen Konsequenzen der Afghanistan-Entscheidung von Joseph Biden


Der Auftritt von US-Präsident Biden am vergangenen Montag, der den Abschluss der Mission in Afghanistan bekanntgab, scheint mir ein sehr wichtiger zu sein. Die von Biden formulierten Thesen können einen fundamentalen Wechsel des außenpolitischen Paradigmas in der Politik der USA bedeuten.

Erstens markiert die Erklärung, dass sich die Amerikaner nicht mit einem „nation building“ („Aufbau eines Staates“) befassen, sondern lediglich eine konterterroristische Operation durchführen würden, einen Verzicht der USA auf einen Wechsel von Regimes im Interesse der Durchsetzung demokratischer Institute und Werte. Dies ist eine praktische Verwirklichung des Begreifens durch die Amerikaner, dass in den Ländern dieser Region, solcher wie der Irak und Afghanistan, die Quelle einer Legitimität in den Augen der Gesellschaft nicht „demokratische Wahlen“ sind, sondern eine „gerechte Vertretung“ der einen oder anderen Bevölkerungsgruppen in den Machtorganen.

Zweitens hat Biden klar deutlich gemacht, dass die Amerikaner keine militärische Präsenz und eine Stationierung in „besorgniserregenden Ländern, sondern erfolgreiche konterterroristische Operationen brauchen.

Drittens, der Truppenabzug aus Afghanistan und das Ausbleiben von Maßnahmen zur Zügelung der Taliban (die in der Russischen Föderation verboten sind) wurden durch den Unwillen bedingt, das Leben der amerikanischen Soldaten vor dem Hintergrund der Flucht der politischen Landeselite aus Kabul und der stillschweigenden Sabotage seitens der afghanischen Armee zu riskieren.

Übrigens, Biden hatte vor drei Wochen betont, dass die Formationen der Taliban 75.000 Menschen zählen würden, und die von den USA geschulte und ausgerüstete Armee der Regierung Afghanistans – 300.000 Menschen. Dabei standen den afghanischen Militärs auch noch Luftstreitkräfte zur Verfügung. Die die Taliban nicht hatte. Und wenn diese Armee nicht gegen den Gegner kämpfen wollte, warum sollten dies die Amerikaner tun?

Viertens scheint es recht wahrscheinlich zu sein, dass sich der „Fall Afghanistan“ durchaus logisch in die neue außenpolitische und geopolitische Strategie von Biden einfügt. Der Hauptgegner ist China. Der zweite mit einem um ein Mehrfaches hinsichtlich der Bedrohlichkeit zurückliegende – Russland. Die USA brauchen das Öl aus dem Nahen Osten nicht. Folglich ist es auch schon nicht so wichtig, wer sich in den Ländern der Region an der Macht befindet. Weiter. Die „Taliban“ (-Bewegung) hatte im Unterschied zu „Al Qaida“ (die in der Russischen Föderation verboten ist) nie Terrorakte auf dem Territorium der Vereinigten Staaten geplant. Die „Taliban“-bewegung war stets um eine Islamisierung ihres eigenen Landes besorgt. Folglich ist sie keine terroristische Gefahr auf dem Territorium der USA. Die Verletzung der Menschenrechte aber, der Bürgerfreiheiten und die Unterdrückung der Frauen – auch wenn die keine sehr angenehme Realität ist, die aber von Washington tausende Meilen entfernt ist – die kann man überleben.

Und eben in dieser, in ihrer neuen regionalen Zivilisationsbestimmtheit lassen die USA die „Taliban“-Bewegung in Ruhe. Diese Ruhe kann – relativ gesehen – mit der nationalen Spezifik der Durchsetzung der Scharia-Regeln im tagtäglichen Leben bestehen. Und möglicherweise auch mit dem grenzüberschreitenden Modell der Organisierung der heutigen muslimischen Gesellschaft. Und da kommen banal auch die zentralasiatischen Länder in den Sinn, und Xinjiang in China. Die natürliche Anziehungskraft der orthodoxen Doktrin mit einem Antikorruptionspathos formiert leicht Armeen von Anhängern und Adepten auf den verschiedenen Seiten der Grenze.

In diesem Fall schaffen die USA ernsthafte potenzielle Bedrohungen für die nationale Sicherheit sowohl Chinas als auch Russlands. Ohne aktive Handlungen und signifikante Militärausgaben. Aber die Volksrepublik China und die Russische Föderation müssen da wie auch die anderen Länder der Organisation des kollektiven Sicherheitsvertrages und der Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit den Geldbeutel ziehen.

Und da kann Washington mit Genugtuung beobachten, wie die Gefahren für die Volksrepublik China, die von Hongkong, Taiwan und der Region des Südchinesischen Meeres ausgehen, verblassen, und für die Russische Föderation – die von der Ukraine und den Ländern des Baltikums ausgehen.

Die NATO ist in der Afghanistan-Mission vollkommen gescheitert. Ohne die US-amerikanische Führungsrolle erwies sich die Allianz als ein „Papier-Schakal“. Andererseits haben sich alle um formale Verträge mit der NATO gekümmert, die Schutz sichern. Vom Prinzip her hat sich schließlich alles als vage und relativ erwiesen. Es gibt gegenüber niemanden keinerlei Pflichten.

Die aufgezählten Umstände sind meines Erachtens unbedingt eine Bestätigung der Ausgangsthese von der prinzipiellen Wichtigkeit des Montag-Auftritts von US-Präsident (Joseph) Biden bezüglich des Abschlusses der Mission in Afghanistan.

Und anstatt zu schmunzeln und Analoge zur Flucht der Amerikaner aus Saigon (am 29. und 30. April 1975 während der Endphase des Vietnamkriegs – Anmerkung der Redaktion) zu suchen, muss man allseitig und tiefgründig die Ausmaße der Folgen dieser Entscheidungen des amerikanischen Präsidenten für Russland analysieren.

Der „Triumphzug“ der US-amerikanischen Demokratie durch die ganze Welt ist — allem nach zu urteilen — gebremst worden. Allen Völkern wird scheinbar das Recht auf eine uneingeschränkte häusliche Gewalt, eine Reaktion und Regress gegeben.