Mitglieder der Gesellschaftlichen Beobachterkommission des Verwaltungsgebietes Wladimir haben die Strafkolonie Nr. 2 besucht, um den Zustand von Alexej Nawalny und die Qualität der ihm gewährten medizinischen Hilfe zu überprüfen. Zuvor waren Informationen aufgetaucht, wonach Nawalny Schmerzen im Rücken und in einem Bein hat. Seine Gattin Julia teilte in einem Appell an Präsident Wladimir Putin mit, dass sich der Zustand Alexejs aufgrund dessen verschlechtert hätte, dass man ihn nachts im Gefängnis jede Stunde wecke. Der Pressesekretär des Präsidenten Dmitrij Peskow erklärte, dass der Kreml auf das Schreiben nicht reagieren werde. Man müsse es an den Föderalen Dienst für den Strafvollzug richten. Vertreter der Gesellschaftlichen Beobachterkommission präzisierten, dass ein Bein Nawalnys nach dessen Aussagen wirklich schmerze. Er bitte, beim Erhalt von Diclofenac-Injektionen Unterstützung zu leisten. Er laufe aber und klage über nichts anderes.
Derweil sind mehrere russische Ärzte mit dem Aufruf an die Öffentlichkeit getreten, Nawalny medizinische Hilfe zu gewähren (mit Stand vom Dienstvormittag über 500 Mediziner – Anmerkung der Redaktion). Sie wandten sich an ihre Kollegen mit der Bitte, unter dem offenen Brief zu unterschreiben. Um den Gesundheitszustand des Politikers (den man im Kreml im Übrigen ablehnt, für einen Politiker zu halten, und einfach als „verurteilten Bürger“ oder „Blogger“ bezeichnet) hat man sich in den Ländern des Westens Sorgen gemacht. In gewisser Weise erinnert die sich entwickelnde Geschichte mit Nawalny an ein anderes politisches Sujet aus dem Jahre 2012.
Es geht natürlich um Julia Timoschenko, die unter Präsident Viktor Janukowitsch Ende des Jahres 2011 eine 7jährige Gefängnisstrafe für die Unterzeichnung von Gasverträgen erhielt, die angeblich der Ukraine geschadet hatten. Bereits während des Prozesses hatte Timoschenko über starke Rückenschmerzen geklagt. Darüber sprach und schrieb man weiter, als sie im Gefängnis war. Europäische Mediziner – insbesondere aus der Berliner Klinik Charité – und Politiker übten auf die ukrainischen Offiziellen Druck aus, damit sie Timoschenko zu einer Heilbehandlung lassen. Im Endergebnis verlegte man die Ex-Regierungschefin im Mai des Jahres 2012 in ein Krankenhaus von Charkow, wo sie sich lange Zeit unter der Beobachtung nicht nur von Ärzten, sondern auch des Systems des Strafvollzugs befand. Von dort kamen auch regelmäßig Klagen über unerträgliche Bedingungen, unter denen die Rückenschmerzen nicht aufhören, sondern sich nur verstärken.
Im Westen hat man sowohl die Haftstrafe Timoschenkos als auch den „Fall Nawalnys“ gleichermaßen wahrgenommen und nimmt sie auch heute so wahr – als politische Prozesse. Gleichzeitig hatte es in den Beziehungen der Europäischen Union mit Viktor Janukowitsch im Jahr 2012 eigene Nuancen gegeben. Die Ukraine wurde als ein strategisch wichtiger Staat wahrgenommen, dessen Offiziellen ein Assoziationsabkommen mit der EU unterzeichnen wollten. Im Sommer des gleichen Jahres war die Ukraine zusammen mit Polen Gastgeber der Fußball-Europameisterschaft. Für die Kiewer Offiziellen war dies ein wichtiges außenpolitisches Schaufenster. Folglich verfügten Brüssel und die wichtigsten europäischen Hauptstädte über Hebel zur Ausübung von Druck auf Janukowitsch, konnten ihn zwingen, sich auf Zugeständnisse im „Timoschenko-Fall“ einzulassen. Ihre Verlegung in ein Krankenhaus wurde zu einem Kompromiss-Schritt, wobei sie erst nach der Freilassung ins Ausland ausreisen konnte.
Heute hat die EU keine realen Instrumente für eine Druckausübung auf Moskau und den Kreml. Dies bedeutet nicht, dass Russland und die europäischen Offizielle ohne gemeinsame Interessen geblieben sind. Die Verlegung Nawalnys für eine Heilbehandlung kann die russische Führung theoretisch als eine politische Karte ausnutzen – wenn man guten Willen demonstrieren und eine Erwärmung in den Beziehungen mit der EU aufgrund der einen oder anderen Ursache andeuten will.
Einige Journalisten und Politologen haben bereits die Meinung bekundet, dass sich die russischen Offiziellen gegen eine neue Ausreise Nawalnys zur Behandlung im Ausland nicht widersetzen würden. Juristisch ist es schwierig, dies mit dem Inhaftierten vorzunehmen. Solch eine Variante muss zum Ergebnis eines politischen Deals werden. Gleichzeitig scheint es offensichtlich zu sein, dass die Geschichte mit Nawalny im Gefängnis für den Kreml politisch toxisch ist. Für die russischen Offiziellen wäre es wahrscheinlich bequemer, wenn Nawalny im Status eines politischen Emigranten wie Chodorkowskij ist und bleibt. In ihren Augen würde dies bedeuten, dass er vom politischen Feld des Landes verdrängt ist.