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Über die Mittelklasse und den Einfluss der Sanktionen


Als ausländische Unternehmen anfingen, eine zeitweilige Einstellung der Tätigkeit in Russland bekanntzugeben, konnte man hören, dass der Westen (und Länder wie Südkorea oder Japan) die Herrschenden in der Russischen Föderation bestrafen wollen. Doch anstelle dessen bestrafe er die Mittelklasse, die man nicht als Kernelektorat von Wladimir Putin ansehen kann. Gerade für die Mittelklasse ist die Qualität des Konsums wichtig. Gerade solche Menschen spüren, dass sich ihr Leben verändert, wenn sie Einkäufe in ausländischen Internet-Shops bezahlen, keine Kredite aufnehmen, nach Spanien fahren, zu IKEA zu gehen oder einfach Bekleidung der gewohnten Marken kaufen können.

Die russischen Offiziellen hatten von Beginn des Sanktionsdrucks an den Bürgern versichert, dass das Land mit Lebensmitteln und allem Nötigen versorgt sei. Die sozialen Pflichten würden, sagte sie, erfüllt werden. Damit hatten die Herrschenden sozusagen ihre Prioritäten deutlich gemacht. Das Wichtigste sei, sich um jene zu kümmern, die ein Verschwinden von Zucker oder Buchweizen aus den Ladenregalen befürchten.

Auf den ersten Blick scheint dies eine durchaus natürliche Reaktion zu sein. Und es geht ganz und gar nicht um eine politisch-elektorale Orientierung. Der Mensch lebt ein bourgeoises Leben, wenn er sich mehr als das Nötige erlauben kann. In Russland hat sich ungeachtet der Jahre eines relativen Wohlstands die Vorstellung nicht ganz durchgesetzt, dass ein bourgeoiser Konsum eine Norm und keine Opulenz ist. Die Menschen erinnern sich an die späte Sowjetzeit oder an die wilden 90er und halten ein Überleben in der Krise für etwas Natürliches. Solch eine Wahrnehmung der Welt werden die Offiziellen wahrscheinlich ins Kalkül ziehen, während sie Sanktionen erwarten.

Zur gleichen Zeit hatte es die russische Führung lange Zeit – und im Großen und Ganzen nicht ohne Grund – als ihren Verdienst angesehen, dass sich im Land eine Mittelklasse etabliert hatte. Dass sie in keiner Weise eine adäquate Vertretung in der Politik erhalten konnte – ja und auch nach wie vor – nicht kann, ist eine andere Frage. Jedoch gerade in der Herausbildung einer Bourgeoisie hatte auch die Wirkung der satten Nulljahre (das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts – Anmerkung der Redaktion) ihren Ausdruck gefunden. Die grundlegenden Bedürfnisse der Bürger waren befriedigt worden. Sie konnten weiter vorausschauen, um ein, zwei Stufen höher klettern.

Hier kann man von einer Pyramide der Bedürfnisse sprechen. Die ideellen Widersprüche der Herrschenden und der Mittelklasse werden oft darauf reduziert, wie diese Pyramide wahrgenommen wird. Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, Verpflegung, ein Job sind wichtige Bedürfnisse. Eine Gesellschaft kann aber nicht als eine moderne und entwickelte angesehen werden, wenn nur diese Bedürfnisse befriedigt werden. Eine Selbstentwicklung und Selbstrealisierung, das Streben nach einem qualitativ höheren Konsum, die Freiheit der Persönlichkeit sind aus der Sicht der Hierarchie „höhere“ Bedürfnisse. Wenn sie zu wichtigen werden, entwickelt sich die Gesellschaft, macht sie Fortschritte.

Die Herrschenden haben mehrfach zu verstehen gegeben und tun dies weiterhin, dass man beispielsweise im Interesse der Sicherheit andere Bedürfnisse opfern könne und müsse. Und dies sei normal. Tatsächlich gibt es für eine moderne Gesellschaft darin nichts Normales. Dies ist ein erzwungenes oder willkürliches Zurückstecken um mehrere Stufen.

Wenn es nicht den Boom in Bezug auf Rohstoffe zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegeben hätte, hätte man wohl kaum über einen bourgeoisen Konsum in Russland sprechen können und gemusst. Aber er hat auch das Wohlergehen anderer sozialer Gruppe beeinflusst. Die Lebensqualität der „Arbeiterklasse“ hat gleichfalls zugenommen. In einem Milieu verbinden sich neue Konsumgewohnheiten einfach leichter mit den bourgeoisen Werten, in einem anderen – schwieriger. Und die Offiziellen, die begriffen hatten, dass alle auf die eine oder andere Art und Weise besser zu leben begonnen hatten, setzte aus strategischer Sicht nicht auf die Mittelklasse.

Gerade deshalb empfindet die neue russische Bourgeoisie so schmerzhaft den Weggang (selbst wenn er ein zeitweiliger ist) gewohnter Marken und die Zugänglichkeit üblicher Technologien. Die Wirtschaft hatte sich nicht darum gekümmert, dass es in diesem Segment des Landes eigene wettbewerbsfähige Angebote gibt. Die Importsubstitution tangierte Technologien und Waren des „vorrangigen Bedarfs“. Im Ergebnis dessen muss sich die Bourgeoisie schnellstens etwas ausdenken, wie sie ihre Konsumgewohnheiten bewahren kann. Und zusammen damit das Gefühl der Klassenzugehörigkeit. Und sie muss darauf hoffen, dass alles bald zu einer relativen Normalität zurückkehren wird.