Die Europäische Union hat ihr 10. Paket antirussischer Sanktionen in Kraft gesetzt und die Restriktionen unter anderem auf den 89jährigen Chirurgen Leonid Roschal, den Chef des Präsidialrates für Menschenrechtsfragen Valerij Fadejew, die Menschenrechtsbeauftragte Russlands Tatjana Moskalkowa und den Leiter der dem Außenministerium untergeordneten Agentur Rossotrudnitschestwo Jewgenij Primakow ausgedehnt, aber auch auf eine Reihe von Medien-Managern und Journalisten, darunter auf den Militärkorrespondenten Alexander Koz aus der kremlnahen Moskauer Zeitung „Komsomolskaja Prawda“. Im Außenministerium der Russischen Föderation bezeichnete man die Aufnahme Roschals in die Black List als Blasphemie. Moskalkowa erklärte ihrerseits, dass die von der EU getroffenen Maßnahmen „sowohl einen demokratischen Dialog als eine Menschenrechtsdiplomatie zunichtemachen“.
Gibt es einen pragmatischen Sinn in der Aktualisierung des Personen-Sanktionsverzeichnisses? Mehrere hochrangige Vertreter der EU hatten noch bei Erörterung des neuen Sanktionspakets unterstrichen, dass Europa der Grenze von Möglichkeiten in Bezug auf Restriktionen nahe sei. Lange Zeit vermochte man das Paket nicht zu verabschieden. Einige Länder hatte es für zu schwach gehalten. Und natürlich besteht die Versuchung, die Verlängerung der „Schwarzen Liste“ vor allem als eine symbolische Geste anzusehen. Man muss irgendwen aufnehmen, damit man keinen Vorwürfen einer Tatenlosigkeit ausgesetzt wird. Ja, und da wählt man aus den Verbliebenen aus. Solch eine Interpretation kann den russischen Offiziellen gefallen, die auf jegliche Weise unterstreichen, dass der Westen einerseits sein feindseliges Wesen bestätige, andererseits aber in den Ressourcen und Maßnahmen für eine Einflussnahme auf die Russische Föderation eingeschränkt sei.
Die Erweiterung der „Schwarzen Liste“ besitzt wohl auch einen ikonischen Charakter. Dies ist aber eher ein Deutlichmachen von Absichten denn ein Eingestehen der Begrenztheit der Maßnahmen. Das ursprüngliche Ziel der Sanktion war, Moskau Einnahmen zu entziehen, die Möglichkeiten, die Sonderoperation in der Ukraine zu finanzieren. Dieses Ziel hat keiner gecancelt, obgleich wirklich immer weniger Hebel bleiben, die die westlichen Länder in Bewegung setzen könnten.
Zur gleichen Zeit „labeln“ die westlichen Politiker, die die Sanktionspakete schnüren, sozusagen die Putinsche Elite, das heißt alle, die persönlich, von der Karriere her oder ideell dem russischen Präsidenten nahe sind. Man kann daran erinnern, dass die „Schwarzen Listen“ noch vor den Ukraine-Ereignisse aufgekommen waren, beispielsweise nach dem Skripal-Fall (der am 4. März auf seinen 5. Jahrestag schauen kann – Anmerkung der Redaktion). In die hatte man große Unternehmer aufgenommen. Den übrigen aber hatte man sozusagen angedeutet: Man müsse sich bemühen, auf das Regime von innen her Einfluss zu nehmen, andernfalls werden Sie die nächsten sein.
Diese Logik kann teilweise auch jetzt bewahrt werden. In den westlichen Ländern wird man jedoch kaum die jüngsten Erfahrungen ignorieren oder naiv und oberflächlich den Charakter des politischen Systems in der Russischen Föderation bewerten. Dort begreift man auch und unterstreicht gleichfalls verbal, dass niemand Russland „canceln“ wird, dass man mit ihm dennoch Beziehungen gestalten muss. Die länger werdende „Schwarze Liste“ aber ist ein Verweis darauf, dass es in den strategischen Plänen des Westens die heutige russische Elite nicht gibt. Mit ihr sind lediglich einzelne, situative Vereinbarungen möglich. Anders gesagt: Zum Ziel der Sanktionen wird nicht nur eine Einschränkung Moskaus in den Einnahmen, sondern auch der Start eines für den Westen wünschenswerten Szenarios – eines Regimewechsel.
Man kann sich die Frage stellen: Wenn der Westen alle labelt, so wie sieht er da die neue herrschenden Elite in Russland? Wer wird ihr angehören? Wenn angenommen wird, dass dies eine gewisse Regierung im Exil ist, dies politische Emigranten sind, so ist dies gerade eine recht naive Sichtweise. Diese Menschen reichen für den Aufbau eines neuen funktionierenden politischen Systems nicht aus. Ergo muss irgendwer aus der aktuellen Elite „rehabilitiert“ werden.
Die Erweiterung der Sanktionsziele verstärkt auch den an den inländischen Verbraucher gerichteten Narrativ der russischen Herrschenden. „Wir haben es doch gesagt, schauen Sie! Sie gestehen alles selbst ein!“ ist ein wichtiger Teil solch eines Narrativs. Die westlichen Politiker hätten, wie die russischen Offiziellen erklären, selbst eingestanden, dass die Minsker Abkommen eine Farce und ein Manöver gewesen seien. Nunmehr ist es auch sehr leicht zu sagen, dass der Westen wirklich lange die Idee gehegt hätte, die Herrschaft in Russland zu ändern, sich in dessen Angelegenheiten einzumischen und eine orangene Revolution zu organisieren. Das heißt: Die ganze Politik der herrschenden Elite der Russischen Föderation inklusive der Verfolgung der außerparlamentarischen Oppositionellen sei eine richtige gewesen.