Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Über die nukleare Gefahr und die Rhetorik von Offiziellen Russlands


Die offizielle Sprecherin des Außenministeriums der Russischen Föderation, Maria Sacharowa, erklärte in einem Interview für den Hörfunksender „Sputnik“ der staatlichen russischen Nachrichtenagentur „Russland heute“, dass Washington „mit Leichtigkeit“ über das Thema der Kernwaffen spreche, es entwickele und „manipulative Methoden nutzt, um uns in diese Agenda hineinzuziehen“.

Wie dem auch sein mag, mehrere hochrangige russische Machtvertreter lassen sich getrost in die Diskussion hineinziehen. Das wohl markanteste Beispiel ist der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates Dmitrij Medwedjew. In seinem Telegram-Kanal schrieb er: „Stellen wir uns einmal vor, dass Russland gezwungen ist, die furchtbarste Waffe gegen das ukrainische Regime anzuwenden, das einen großangelegten Aggressionsakt verübte, der für die eigentliche Existenz unseres Staates gefährlich ist. Ich nehme an, dass die NATO nicht beginnen wird, sich direkt in den Konflikt auch in solch einer Situation einzumischen. Schließlich ist die Sicherheit Washingtons, Londons und Brüssels für den Nordatlantikpakt weitaus wichtiger als das Schicksal der Ukraine, die keiner braucht und untergeht“.

„Die Demagogen jenseits des Atlantiks und die europäischen haben nicht vor, in einer nuklearen Apokalypse ums Leben zu kommen“, fügte der 57jährige Medwedjew zynisch hinzu. „Und daher werden sie den Einsatz jeglicher Waffen im laufenden Konflikt schlucken. Irgendwie so…“

Natürlich kann man annehmen, dass der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates (und Ex-Präsident sowie Ex-Premier des Landes) hypothetisch Überlegungen anstellt. Dmitrij Medwedjew hatte man lange Zeit für einen Vertreter des liberalen Kreml-Flügels gehalten (und sich offensichtlich arg getäuscht – Anmerkung der Redaktion). Und die diskursive Transformation, die er in diesem Jahr durchgemacht hat, wobei er zu einer kompromisslosen Rhetorik in seinen Posts übergegangen ist, ist nicht ganz nachzuvollziehen. Aus ihr kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass im Machtsystem der Einfluss jener Gruppierung extrem zugenommen hat, für die „nukleare“ Annahmen keine Emotionen, kein Trolling und keine Gedankenspiele sind, sondern ein Denkstil, eine ernsthafte Agenda.

Der interessierte – und besorgte – Beobachter kann aus den Medwedjew-Posts die Schlussfolgerung ziehen, dass man gerade so auch im Kreml denkt. Gerade dies („und was werden Sie uns antun?“) meinen auch die Machtvertreter, wenn sie Journalisten auf Doktrin-Dokumente verweisen, wenn sie vorschlagen, zu gucken und sich dessen zu erinnern, unter welchen Bedingungen Russland Kernwaffen einsetzen könne.

Die Lage in der Welt ist wirklich extrem aufgeheizt. Lange Zeit hatten es die Großmächte vorgezogen, sich nicht direkt zum Thema ihrer Nukleararsenale zu äußern, nicht an sie zu erinnern und nicht die Weltgemeinschaft zu verschrecken. Massenvernichtungswaffen wurden vorrangig im Kontext ihrer Nichtverbreitung erörtert. Die großen Staaten hatten beispielsweise darüber Gedanken angestellt, wie man es so bewerkstelligen könne, dass Terroristen derartiger Waffen nicht habhaft werden können. Jetzt ist aber das unausgesprochene Tabu gebrochen worden. Man spricht direkt über die Möglichkeit eines Nuklearschlages oder einer Antwort auf solch einen Schlag.

Die Akzente und Details der Rhetorik sind sehr wichtig. In Russland wurden ganze Generationen in dem Geiste erzogen worden, dass ein nuklearer Schlag etwas völlig Unzulässiges ist. Die Geschichte mit den Atombomben-Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki war zu einer tragisch prägenden und bestimmenden geworden. Dies ist ein Sujet, dass seit der Kindheit im Bewusstsein der Menschen abgespeichert wurde. Die Geschichte mit Hiroshima und Nagasaki wurde auch in den antiamerikanischen Diskurs eingetaktet, der in den Zeiten des Kalten Krieges entwickelt wurde und schnell bereits im neuen Russland aktualisiert wurde – noch vor der Präsidentschaft von Wladimir Putin und den Null-Jahren. Die USA verurteilte man über Jahrzehnte aufgrund der Atombomben-Abwürfe, hielt sie für ein Beispiel für eine Verletzung der Grenzen des Erlaubten, bezeichnete es als ein Kriegsverbrechen.

Es ist erstaunlich, wie bei alledem hochrangige Vertreter in Russland in einer Situation, in der konventionelle Waffen nicht erlauben, eindeutig zu dominieren, zu einem Reden über den nuklearen Auslöseknopf übergehen. Sie tun dies mit einer Leichtigkeit, so als würde es bloß um eine neue taktische Entscheidung und nicht um einen Systemsprung gehen. Sie vergessen sogar, für die ganze Welt und den Frieden wichtige Vorbehalten zu formulieren: „Natürlich, wir dürfen die unter keinen Umständen zulassen“.

Einen nuklearen Konflikt in Gedanken und verbal zuzulassen, ist ein sicherer Schritt dahingehend, um ihn in der Praxis zuzulassen. Und dies ist eine potenzielle Zerstörung nicht einmal von Städten und Ländern, sondern der Zivilisation. Man wird wohl kaum auf solch eine Art und Weise die Interessen von irgendwem verteidigen können.