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Über die öffentliche Transformierung des Aufstands in einen Streit innerhalb der Elite


Der Kreml hat die Tatsache des Treffens von Präsident Wladimir Putin mit Kommandeuren der privaten Militärfirma „Wagner“ und persönlich mit Jewgenij Prigoschin bestätigt. Und jetzt ist es nicht ganz klar, wie man „offiziell“ die Ereignisse vom 23. und 24. Juni bezeichnen wird. Die Definition „Militärputsch“ ist sozusagen zu einem allzu sehr anklagenden geworden, und die Termini „militärischer Fehler“ oder „militärisches Missverständnis“ würden merkwürdig und sogar spöttisch klingen. Auf jeden Fall hat der Kreml gezeigt, dass er bereit ist, wahren Patrioten den Fehler in Form einer Meuterei zu verzeihen, wenn sie Reue bekunden und einen Treueeid ablegen.

Ein Vergeben bedeutet überhaupt kein Vergessen. Putin hatte öffentlich das Wort „Verrat“ in den Mund genommen. Und dies ah nicht wie ein Teil irgendeines Spektakels aus (und sieht auch nach wie vor nicht so aus). Im Gegenteil, es schien eine natürliche emotionale Reaktion zu sein. Der Präsident hatte schon früher erklären müssen, dass er einen Verrat nicht vergeben können. Allerdings ist er auch nicht in der nächsten Umgebung damit konfrontiert worden. Der Grad der Nähe von Prigoschin zu Putin an sich ist ein Thema für Spekulationen. Aber der Grad der Bedeutsamkeit der Leistungen, die die von Prigoschin geschaffenen Strukturen dem Staat erweisen, ist augenscheinlich ein hoher. Von daher auch das besondere Verhältnis. Die besondere Stellung des Gründers der Söldnerfirma „Wagner“ unterstreicht auch dies, was für Ressourcen man ihm zu akkumulieren erlaubt hatte. Es geht vom Wesen her um eine kleine Privatarmee, um ein mit Stärke verbundenes, das heißt um das wichtigste Argument im Streit innerhalb der Elite.

Im Kreml hatte man sehr schnell die Informationen verifiziert, die vom Wesen her durch die französische Zeitung „Liberation“ publik gemacht worden waren. Dies ähnelt nicht sehr dem gewohnten Verhalten der russischen Herrschenden, die es gewohnt waren, Meldungen solcher Art zu leugnen oder schlicht und einfach nicht zu kommentieren. Wenn es nicht die undichte Stelle im Kreml oder in der Firma „Wagner“ gegeben hätte, hätten sich die Offiziellen möglicherweise weiterhin an das früher formulierte Narrativ gehalten – über die übermäßigen Ambitionen, die betrogenen „Wagner“-Kämpfer, die wichtige Rolle Lukaschenkos und einen Abzug nach Weißrussland. Eine andere Sache ist, dass es nicht einfach gewesen war, die Geschlossenheit solch eines Narratives zu bewahren. Beispielsweise konnte keiner begreifen, wo sich Jewgenij Prigoschin an sich befindet. Mal wollte man ihn auch in Russland gesehen haben. Und dies passte überhaupt nicht mit dem Status eines Vertriebenen zusammen. Die Begegnung vom 29. Juni hat sozusagen alles vereinfacht. Wahrscheinlich haben die PR-Mechanismen des Kremls dieses Mal schneller und flexibler als üblicherweise reagiert. Und es war entschieden worden, dass es für das Image der Herrschenden „so besser“ sei.

Warum hatte der Kreml nicht selbst über das Treffen mit „Wagner“-Kommandeuren und Prigoschin informiert – und nicht sofort? Vor allem weil bereits spektakuläre Worte zur Diskreditierung des Chefs der Söldnerfirma verkündet worden waren, vor allem aber aufgrund dessen, dass die Gesellschaft nach Auffassung von Beobachtern durch die Ereignisse des 23. und 24. Juni schockiert worden war. Es waren Menschen ums Leben gekommen, Straßen wurden zeitweilig gesperrt, Militärtechnik wurde in friedliche Städte geschickt, und es war das Regime einer konterterroristischen Operation verkündet worden.

Das Treffen vom 29. Juni erklärt man damit, dass Putin aus erster Hand Erklärungen bekommen wollte. Daran gibt es nichts Anzuzweifelndes. In den Jahrzehnten, die Putin an der Macht ist, ist dies offenkundig nicht der erste Konflikt in den Kreisen der Elite oder in deren Umfeld. Es sind zu viele Menschen, zu viele aufeinanderprallende Interessen. Der Kremlchef ist es gewohnt, in solchen Streitigkeiten ein Schiedsrichter zu sein. Und dies bedeutet auf jeden Fall, dass er sich mit den entsprechenden Menschen trifft und sie anhört.

Die Beispiellosigkeit des nunmehrigen Konflikts besteht im Grad seines öffentlichen Charakters. Über frühere konnte man hauptsächlich spekulieren. Hier aber war alles mit einer militärischen Direktheit erklärt worden. Und genauso waren auch die Offiziellen gezwungen gewesen, eine Antwort zu geben. In der obersten Führungsriege begreift man ausgezeichnet, dass es schwierig ist, einzelne Personen innerhalb der Elite zu versöhnen. Doch die Methode einer Politisierung von Streitigkeiten innerhalb der Elite ist für die Offiziellen inakzeptabel. Das Treffen mit den „Wagner“-Spitzenvertretern bricht aus dem Narrativ aus, das nach dem 23./24. Juni geschaffen wurde. Es entspricht aber scheinbar durchaus den gewohnten Mechanismen innerhalb der Elite. Und es ist weitaus einfacher, einen ambitionierten Beamten oder Geschäftsmann als eine militärische Struktur zu marginalisieren, die die Offiziellen als ein wichtiges Instrument nutzen und sich anschicken, weiter zu nutzen.

  1. S. der Redaktion „NG Deutschland“

Nach den Aussagen von Wladimir Putin vom Donnerstag gegenüber der Moskauer Wirtschaftszeitung „Kommersant“ und dem russischen Staatsfernsehen, bleiben jedoch Fragen und Zweifel hinsichtlich der Aufrichtigkeit des Kremlchefs. Auf einmal stellt sich da heraus, dass die Firma „Wagner“ juristisch gar nicht existieren würde. Aber wie konnte sie dann bei ihrem Engagement im Verlauf der militärischen Sonderoperation Waffen, Munition und Verpflegung vom Verteidigungsministerium Russlands erhalten? Auf welcher juristischen Grundlage? Und dass Wladimir Putin gern auch einmal seine eigenen Worte vergisst oder in den Wind schreibt, wissen Russlands Bürger nur allzu gut. Erinnert sei nur an das hochheilige Versprechen aus dem Jahr 2010, dass Rentenalter nicht anzuheben. Derzeit wird im Übrigen erneut erörtert, ob man nicht doch noch einmal das Rentenalter anheben sollte, damit die künftigen Rentner länger Geld auf die hohe Kante legen können.