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Über die Perspektiven von Boris Nadeschdin


Boris Nadeschdin war am letzten Januartag in der Zentralen Wahlkommission, um für seine Präsidentschaftskandidatur gesammelte Unterschriften abzugeben. Es wird erwartet, dass für die Überprüfung der Unterschriften rund zehn Tage vergehen werden. Es gibt die Meinung (sie wurde in Medien und Telegram-Kanälen bekundet), dass in dieser Zeit die Offiziellen entscheiden müssen, ob sie bei den Wahlen solch einen liberalen Kandidaten brauchen oder nicht. Derweil waren die Warteschlangen derjenigen, die für Nadeschdin unterschreiben wollten, zu so etwas wie ein aktuelles politisches Mem, wobei der Wahlkampagne offenkundig ein markanter Farbtupfer verliehen wurde.

Einige Vertreter des öffentlichen Lebens (u. a. der sattsam bekannte Vitalij Borodin – Anmerkung der Redaktion) fordern derweil, Boris Nadeschdin als einen „ausländischen Agenten“ abzustempeln – aufgrund seiner Auslandskontakte. Dies würde jetzt aber wohl wie eine grobschlächtige Entscheidung aussehen. Ja, Nadeschdin tritt zu den Wahlen als Kritik der Herrschenden an. Ja, seine Figur kann jene vereinen, die gegen die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine (die am 24. Februar ins dritte Jahr gehen wird – Anmerkung der Redaktion) auftreten, sowohl diejenigen, die daher ins Ausland gegangen sind, als auch diejenigen, die in Russland geblieben sind. Durch ein Misstrauen in Bezug auf das Geschehen aufgekommene Theorien lassen gar zu, dass die „Warteschlangen für Nadeschdin“ speziell organisiert worden seien, um die „Nichteinverstandenen“, die „Ablehner“ zu zählen und zu fixieren. Dabei ist Nadeschdin bereits an einem Punkt angelangt, an dem er einen zusätzlichen Wiedererkennungseffekt und mediale Präsenz erhält. Wenn man ihn unbemerkt aus dem Rennen hätte nehmen wollen, so hätte man dies ganz bestimmt früher getan.

Ist dies aber nötig oder nicht? Die Frage müsste man vielleicht gar so formulieren: Ist der Kandidat Nadeschdin in der Lage, die Herrschenden bei den Wahlen zu stören, das erwartete Ergebnis für den Favoriten zu beeinflussen und das Bild zu verändern, was gewonnen werden „soll“?

Es ist keine Tatsache, dass die Offiziellen derzeit fertige Antworten dazu haben. Es war wahrscheinlich erwartet worden, dass die Kandidatur von Nadeschdin keinerlei Resonanz auslösen, dass er die nötigen Unterschriften nicht sammeln (und es ganz bestimmt keine Warteschlangen geben werde) und dass man ihn leicht zu jeglichem Zeitpunkt ausbooten können werde. Es ist aber doch zu einer gewissen Resonanz gekommen. Die Zentrale Wahlkommission kann auch jetzt Unterschriften für Nadeschdin als ungültige qualifizieren. Vielleicht ist es jedoch für die Herrschenden jetzt bequemer, ihn zu den Märzwahlen zuzulassen, das Wesentliche nicht zu vermehren und keine komplizierten Pläne mit Wladislaw Dawankow (von der Partei „Neue Leute“ – Anmerkung der Redaktion), der einen Teil des liberalen Elektorats übernehmen soll, zu realisieren?

Früher wäre die Zulassung eines nicht zum System gehörenden liberalen Kandidaten als eine Message der Herrschenden an ihre Kritiker, an den Westen interpretiert worden: Seht her, wir haben Pluralismus und in solch einem Umfeld siegt derjenige, den das Volk wirklich möchte. Jetzt ist aber diese Schaufenstervitrine zerschlagen, in ihr kann man nichts ausstellen. Und jene einstigen Adressaten interessieren die Herrschenden nicht mehr. Sie wenden sich nur an ihr Elektorat. Aber für dieses Kommunizieren könnte sich die angenommene Figur von Boris Nadeschdin auch als eine nützliche erweisen. Sein Wahlergebnis bei den Wahlen (vermutlich mit Mühen ein zweistelliges) wäre beispielsweise eine Möglichkeit, dem Elektorat der Herrschenden zu zeigen, dass im Land natürlich noch Pazifisten und Liberale geblieben sind, dass man damit nichts machen könne, doch die Anzahl dieser Menschen sei eine winzig kleine und sie seien weit vom Volk entfernt, ihre Meinung könne man zur Kenntnis nehmen und beim Treffen von Entscheidungen ignorieren.

Die Bedingungen für solch eine Demonstration sind in den letzten Jahren geschaffen worden. Selbst gemäßigt außerparlamentarische Politiker, die imstande sind, zumindest ein Sammeln von Unterschriften zu beginnen, sind fast nicht mehr geblieben. Kritische Aussagen in Bezug auf die Herrschenden müssen mit Blick auf die verschärfte Gesetzgebung vorab abgeklopft werden. Überdies ist das Szenario mit liberalen Kandidaten (zum Beispiel mit Xenia Sobtschak) auch schon bei früheren Wahlen durchgespielt worden. Und da war alles erfolgreich abgelaufen.

Die Warteschlangen für Nadeschdin scheinen jedoch nicht ganz mit diesem sterilen Milieu zu harmonieren. Wenn ihn die Emigranten unterstützen, so ist es schwer zu vermuten, was für Polittechnologien sie starten können. Wenn er mehr Stimmen auf sich vereint als erwartet wird (oder irgendwen überholt), so ist nicht ganz klar, wie man dies interpretieren und eben jenem Elektorat präsentieren kann, dem man eigentlich die Nichtigkeit der Liberalen demonstrieren wollte. Nadeschdin ist kein Radikaler. Aber die Offiziellen haben sich scheinbar noch nicht sehr daran gewöhnt, mit der Wirkung einer Zulassung unkontrollierbarer Äußerungen, selbst wenn sie von der Form her moderate sind, fertig zu werden.

Post Scriptum:

„NG Deutschland“ war am Mittwoch auch in der Zentralen Wahlkommission Russlands. Und es war schon beeindruckend, wie souverän sich Boris Nadeschdin bei der Abgabe der Unterschriften für seine Kandidatur, sprich: Registrierung als Gegenkandidat zum amtierenden Staatsoberhaupt vor der massenhaft erschienenen Presse verhielt. Der 60jährige Politiker dankte nicht nur denen, die für ihn in der Kälte gestanden und ihre Unterschriften für ihn abgegeben hatten. Er beantwortete gleichfalls zahlreiche Fragen, deren Antworten im Kreml möglicherweise wenig Gefallen gefunden haben. Der Politiker erklärte unter anderem: „Ich habe nicht vor, Russland 25 Jahre lang zu regieren. Ich habe nicht die Aufgabe, endlos lange zu regieren. Wenn sich ein Mensch zu lange an der Macht befindet, beginnt er, katastrophale Fehler zu begehen, da er zu verstehen aufhört, was sich in der Welt ereignet“. Im gleichen Atemzug gab Nadeschin zu verstehen, dass er als ein prinzipieller Gegner des amtierenden Präsidenten zu den Wahlen angetreten sei.

Bekanntlich wurde die bisherige Kampagne des Oppositionspolitikers auch von kritischen, wenn nicht gar giftigen Statements begleitet. Der erzkonservative TV-Sender „Tsargrad“ bezeichnete beispielsweise diejenigen, die für Nadeschdin ihre Unterschriften abgeben, als Verräter. In der Zentralen Wahlkommission antworte auf eine entsprechende Frage Boris Nadeschdin so: „Wenn irgendwer im Kopf solch ein Weltbild hat, dass die Anhänger von Nadeschdin Verräter sind, dass 10 Prozent (15 Millionen) Vertreter sind, so ist bei diesem Menschen nicht alles in Ordnung“. Die zehn Prozent sind im Übrigen eine Zahl einer Umfrage des Nadeschdin-Teams zu den möglichen Wahlergebnissen. Laut eben dieser Meinungserhebung würde der Politiker mit zehn Prozent der abgegebenen Wählerstimmen hinter Putin auf Platz 2 landen. Die Journalisten interessierten sich natürlich ebenfalls für das weitere Vorgehen des Oppositionspolitikers, sollte die Zentrale Wahlkommission eine Registrierung verweigern. „Ich werde niemals und unter keinerlei Bedingungen meine Anhänger aufrufen, die Gesetze zu verletzen. Ich handele prinzipiell in genauer Übereinstimmung mit den Gesetzen der Russischen Föderation. Daher wird es keinerlei Appelle, keinerlei Meetings und — gebe Gott — keinerlei Maidans geben, was immer auch geschehen mag. Dennoch denke ich, dass Russlands Bürger ein Verfassungsrecht haben, den Artikel 31 der Verfassung“, um friedlich einen Protest zu bekunden.