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Über die Rolle der Kirche in der Diskussion um die Todesstrafe


In der langanhaltenden Diskussion über eine Aufhebung des Moratoriums für die Todesstrafe hat sich recht überraschend der Patriarch von Moskau und Ganz Russland Kirill eingeschaltet. Das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche hatte in einem Gespräch mit Teilnehmern des Programms „Zeit der Helden“ gesagt, dass Jesus Christus die Todesstrafe nicht verurteilt hätte, obgleich er sie selbst unverdient erfahren hätte. Die Höchststrafe habe es nach Aussagen des Patriarchen „im Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte“ gegeben. „Wenn es einen Menschen gibt, der für die Gesellschaft überaus gefährlich ist, und wenn man ihn in keiner Weise isolieren kann, muss man ihn wegschaffen“, sagte das Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche. Das Moratorium an sich unterstützt er, ruft aber auf, sich anzuschauen, ob dies hilft, den Umfang der Kriminalität zu verringern.
Es muss gesagt werden, dass die letzte Erwägung ungewöhnlich aussieht. In der Regel wird in den Diskussionen über die Todesstrafe ein entgegengesetztes Argument verwendet: Ihre Gegner schlagen vor zu untersuchen, ob das Bestehen der Höchststrafe und nicht das Moratorium für sie hilft, den Umfang der Kriminalität zu verringern. Die Praxis anderer Länder und einzelner Territorien (zum Beispiel in US-Staaten) demonstriert, dass eine Hinrichtung keinen solchen Effekt bewirkt. Es versteht sich, dass auch ein Moratorium für die Höchststrafe zu keiner Verringerung des Umfangs der Kriminalität führt. Und es ist recht merkwürdig, nach solcher Abhängigkeit zu suchen.
Die Gesellschaft verzichtet aufgrund anderer Ursachen auf die Hinrichtungspraxis. Dies ist auch die Furcht davor, einen unumkehrbaren Fehler der Untersuchungen oder der Gerichte zu begehen, in dessen Ergebnis man einem unschuldigen Menschen das Leben nimmt. Dies ist auch eine Zunahme von Humanismus, mit dem die Gesellschaft versucht, sich über natürliche und verständliche Wünsche – solche wie das Bedürfnis nach Rache bzw. Vergeltung — zu erheben. Und sie möchte nicht dem Staat das Recht hinzurichten überlassen, wenn dafür keine Notwendigkeit besteht. Patriarch Kirill weiß laut eigenen Aussagen nicht, was für den Menschen besser wäre – eine lebenslange Haft oder der Verlust des Lebens. Und dies unterstreicht nur, dass eine lebenslange Haftstrafe ein recht harte Maßnahme ist, die den Menschen aus dem normalen Leben der Gesellschaft herausstreicht.
Viele Argumente gegen die Todesstrafe werden in den „Grundlagen der sozialen Konzeption der Russischen orthodoxen Kirche“, die im Jahr 2000 verabschiedet wurde, formuliert. Dies sind sowohl ein Gerichtsfehler als auch ein Verzicht auf Vergeltung. Dort ist auch über die besondere Rolle der Kirche die Rede – den Staat zu bitten, die Bestrafung für Verurteilte zu mildern. Es versteht sich, jegliches Dokument reflektiert seine Zeit. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte sich die Russische orthodoxe Kirche in der russischen Gesellschaft etwa genau so wie auch die anderen Christenkirchen mit ihren Grundsätzen positioniert. Die römisch-katholische Kirche trat beispielsweise zu jener Zeit sehr konsequent gegen die Todesstrafe auf. Dies war einfach eine Norm für die religiösen Organisationen. Nunmehr hat aber Patriarch Kirill plötzlich ein Element von Relativität in diese durchaus verständliche Situation eingebracht.
Wahrscheinlich hat sich das gesellschaftspolitische Umfeld verändert, was das heutige Oberhaupt der Russischen orthodoxen Kirche stets gut zu spüren wusste. Der Bruch mit der westlichen Welt und dessen heutigen Werten, der bewaffnete Konflikt mit Kiew, die generelle Verhärtung und Radikalisierung der Rhetorik – all dies beeinflusst natürlich den Diskus sowohl der öffentlichen Personen als auch der Organisationen. Und es ist völlig verständlich, dass man in den Texten des Alten und des Neuen Testaments Worte und Bilder für eine Unterstützung sehr vieler und mitunter einander widersprechender Überzeugungen finden kann. Jedoch gibt es auch beim aktuellen Zustand der Gesellschaft durchaus ausreichend Rollen, die die Kirche legal spielen kann, ohne dabei ihr Ansehen zu verlieren. Den Versuch zu unternehmen, die Rhetorik abzuschwächen und zu einer Humanität zurückzukehren, ist eine solcher Rollen.
Die Todesstrafe hatte es, wie der Patriarch erinnerte, immer gegeben. Anders gesagt: Dies ist eine Praxis der traditionellen Gesellschaft. Die Kirche tritt als eine konsequente Verteidigerin der Traditionen auf. Der Staat unterstützt in der letzten Zeit diese Linie auf gesetzgeberischer und institutioneller Ebene. Muss dies aber bedeuten, dass jegliche historisch bedingte Evolution der gesellschaftlichen Praktiken angezweifelt werden muss? Und ist die Überwindung der traditionellen Härte oder gar Brutalität nicht eine Leistung, an die man häufiger erinnern sollte?