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Über die russische Praxis des Bestrafens für Meinungen


Das Justizministerium der Russischen Föderation hat in speziellen methodischen Anleitungen den Gerichten und Untersuchungsbeamten den Unterschied zwischen der „Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen“ über die seit dem 24. Februar erfolgenden militärischen Sonderoperation in der Ukraine und einer Meinung über den Einsatz und die Handlungen der Streitkräfte Russlands erläutert. Auf den ersten Blick konnte der Eindruck entstehen, dass das Justizministerium die neuen Realitäten mit der früher bestehenden und für alle verständlichen Praxis in Übereinstimmung bringt: Fakten müssen glaubwürdige und korrekte sein, eine Meinung ist aber eine Meinung, was immer für eine sie sein mag, wegen der Das Gesetz keinen verfolgt.

In Wirklichkeit bringt das Ministerium nur Ordnung ist die strafenden Normen, gibt vor, wie man bei Vornahme einer Expertise diejenigen zu klassifizieren habe, die es zu bestrafen gilt. Ja, für eine negative Meinung über die Sonderoperation kann man keine Haftstrafe entsprechend Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation (öffentliche Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation) erhalten. Solche Äußerungen, die eine Meinung, aber keine Behauptung enthalten, können aber durchaus unter die Artikel des Strafgesetzbuches und des Ordnungsstrafrechts „über eine öffentliche Diskreditierung des Einsatzes“ der Streitkräfte fallen.

Meinungsumfragen, die von unterschiedlichen Organisationen durchgeführt werden, belegen, dass es in Russland Menschen gibt, die die bereits den 162. Tag andauernde Sonderoperation nicht unterstützen. Die erneuerte Straf- und Ordnungsrechtsgesetzgebung, und das Wichtigste – die aktuelle Rechtsanwendungspraxis – veranlassen, sich die Frage zu stellen: Wie können solche Menschen ihre Meinung bekunden? Was für eine Form kann man als eine zulässige ansehen, damit man einen Menschen oder ein Massenmedium nicht einer Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation, einer Diskreditierung „der Wahrnehmung ihrer Vollmachten durch die Staatsorgane zwecks Verteidigung der Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger“, „einer Veranlassung zur Behinderung des Einsatzes der Streitkräfte der Russischen Föderation“ bezichtigt?

Es gibt genug strafbare Kategorien von Äußerungen, damit Experten und nach ihnen auch ein Gericht eine zum Ausdruck gebrachte Meinung als eine extremistische bewerten. Das Justizministerium hilft in seinen Empfehlungen der Korporation von Richtern und Untersuchungsbeamten, die verschiedenen Typen von Rechtsverstößen nicht durcheinanderzubringen bzw. zu vermischen. Und es unternimmt ganz und gar nicht den Versuch, es so zu bewerkstelligen, dass hunderte Bürger (Menschenrechtler sprechen von tausenden) nicht von dieser Maschine erfasst werden. Allerdings gibt es da nichts Überraschendes: Die staatlichen Mechanismen in Russland arbeiten sehr oft auf solch eine Art und Weise. Und gerade so sind auch die Prioritäten gesetzt worden.

Der Artikel 28 der Verfassung der Russischen Föderation erlaubt den Bürgern des Landes, „frei religiöse und andere (!) Überzeugungen zu wählen, zu besitzen und zu verbreiten und ihnen entsprechend zu handeln“. Der Artikel 29 des Grundgesetzes garantiert Russlands Bürgern Gedanken- und Redefreiheit, verbietet, Menschen sowohl zur Artikulation ihrer Überzeugungen als auch zu deren Aufgabe zu nötigen. Dort werden auch eine Medienfreiheit garantiert und eine Zensur verboten. Den Bürgern wird erlaubt, frei „Informationen auf jegliche legitime Art und Weise zu suchen, zu erhalten, weiterzugeben, zu schaffen und zu verbreiten“. Es macht Sinn, daran zu erinnern, dass im Sommer des Jahres 2020 Verfassungsänderungen angenommen wurden. Die Artikel 28 und 29 hatten sie nicht berührt.

Anders gesagt: Die gesamtrussische Abstimmung von vor gerade einmal zwei Jahren hat für die Bürger die oben aufgezählten Rechte verankert, deren Aktualität erneuert und aufs Neue bestätigt. Es ist klar, dass sich seitdem, und besonders im letzten halben Jahr, Vieles im Leben des Landes verändert hat. Jedoch ist offiziell keinerlei neues Rechtsregime eingeführt worden, dass die Wirkung der Verfassung aufhebt.

Dies bedeutet, dass sowohl die neuen Normen, denen entsprechend Menschen aufgrund angeblicher Fakes über die sogenannte Sonderoperation und wegen einer angeblichen Diskreditierung der Streitkräfte der Russischen Föderation bestraft werden, als auch besonders die Rechtsanwendungspraxis eines Kommentars des Verfassungsgerichts bedürfen. Vorerst aber kann man beobachten, wie die den Bürgern garantierten Rechte beeinträchtigt werden. Die Erfahrungen aus den Beobachtungen der politischen und juristischen Wirklichkeit – wie immer sie auch sein mag — erlauben nicht, vom Verfassungsgericht ein entschiedenes Eingreifen zu erwarten. Es lässt sich äußerst selten auf einen Konflikt mit dem Staat ein, und besonders gegenwärtig. „Es ist nicht die Zeit dafür.“ (Und der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, der 79jährige Valerij Sorkin, ist wohl auch nicht der richtige Mann dafür. – Anmerkung der Redaktion).

In dem bereits erwähnten Artikel 29 der Verfassung ist auch die Rede vom Erhalt und der Verbreitung von Informationen „auf eine legitime Art und Weise“. Diesen Zusatz hatte man vorgenommen, wobei man augenscheinlich nicht angenommen hatte, dass das eine oder andere Gesetz die direkte Wirkung der Verfassung einschränken und korrigieren kann (da man in Russland schon lange Abschied von der Oberhoheit der Verfassung über alle anderen Gesetze genommen hat – Anmerkung der Redaktion). In der Praxis aber verwendet man sie gerade auf solch eine Art und Weise.