Unabhängige Zeitung

Private Tageszeitung

Über die Todesstrafe in Russland und die neue geopolitische Situation


 

LDPR-Chef Leonid Sluzkij hat bei der Zeremonie für das Abschiednehmen vom in Sankt Petersburg ermordeten Militärblogger und -korrespondent Wladlen Tatarskij erklärt: „Wir sind nicht mehr durch irgendwelche Protokolle der Menschenrechtskonvention gebunden. Und wir müssen aus dem Moratorium für die Todesstrafe aussteigen“.

Der 55jährige Sluzkij ist nicht zum ersten Vertreter der russischen politischen Elite geworden, der in den letzten Tagen für eine Rückkehr der Höchststrafe plädiert. Der Vorsitzende der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“, Sergej Mironow, hat beispielsweise einen Brief an den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts Valerij Sorkin geschrieben, in dem er die Bitte, das Moratorium für die Todesstrafe in Russland aufzuheben, mit der geopolitischen Situation, den feindseligen Handlungen des Westens gegen Russland sowie mit Terrorakten und der Ermordung von Bürgern begründete. Der 70jährige Mironow hält es für nötig, Terroristen und deren Komplizen hinzurichten, und erinnert daran, dass seine Partei seit dem Jahr 2015 für eine Aufhebung des Moratoriums eintrete. Sein Parteikollege Oleg Nilow präzisierte die Liste jener, denen gegenüber es Sinn mache, die Höchststrafe anzuwenden: „Terroristen, Diversanten, Spione und Staatsverräter“.

Der Abgeordnete von der Kremlpartei „Einiges Russland“, Oleg Morosow, erklärte, dass er selbst für das Moratorium sei. Früher hatte er aber schon gesagt, dass man die Todesstrafe wiedereinführen könne, dass sich die Situation verändert habe, die Gesellschaft wahrscheinlich dafür sei und alles vom politischen Willen abhänge. Diese Willen demonstrieren kann allem Anschein nach der Kreml. Aber laut den Worten von Dmitrij Peskow, dem Pressesekretär des Präsidenten der Russischen Föderation, werde dort die Frage nach einer Rückkehr zur Höchststrafe nicht erörtert. „Im Kreml gibt es bisher keine Position (dazu – „NG“)“, erklärte er.

In den Erklärungen der Verfechter einer Aufhebung des Moratoriums erklingt immer häufiger das Motiv des Aussteigens aus den europäischen Abkommen als eine Befreiung, als ein Abfallen von Fesseln. Da ergibt es sich, dass es der russische Staat und die Gesellschaft in den letzten Jahren einfach nicht erwarten konnten, Verbrecher hinzurichten. Sie waren aber gezwungen gewesen, darauf aufgrund von Vereinbarungen mit den westlichen Ländern zu verzichten. Es scheint, dass solch ein Porträt nicht ganz genau ist. Wahrscheinlich hatte sich doch das Moratorium für die Todesstrafe auf natürliche Art und Weise aus der Evolution des Rechtsbewusstseins, der Vorstellung von einer Suffizienz und dem Sinn der Strafe, vom Humanismus ergeben. Und die Konventionen hatten einfach diese Etappe in der Entwicklung der Gesellschaft und des Staates fixiert.

Es gibt viele Argumente gegen die Todesstrafe. Dies ist sowohl eine offenkundige Redundanz der Höchststrafe für einen Schutz der Bürger vor Verbrechern (ausreichend ist ein Gefängnis). Als auch das Risiko eines Justizfehlers, den man später nicht beheben kann. Dies ist auch das Fehlen einer Verbindung zwischen der Bewahrung oder Einführung der Höchststrafe und dem Grad der Kriminalität. Die Erfahrungen der US-Bundesstaaten sind dafür das beste Beispiel. Nicht ein einziges dieser Argumente hat seine Aktualität im Zusammenhang mit der „sich veränderten geopolitischen Situation“ verloren.

Die Listen der mit einer Todesstrafe zu ahndenden Straftaten, die von Abgeordneten den angeführt werden, lassen aufhorchen. Vor allem weil die russische Gesetzgebung in den letzten Jahren schrittweise verschärft wurde. Während früher klar war, dass als Extremist oder Terrorist derjenige anzusehen ist, der Menschen überfällt, der Explosionen organisiert oder Geiseln nimmt, so werden heutzutage diese Kategorien erweiternd ausgelegt. Als eine extremistische oder gar terroristische kann eine Organisation erklärt werden, die vor einigen Jahren noch nicht bloß ruhig im Rechtsfeld existierte, sondern an der Politik teilnahm sowie Kandidaten für wichtige Ämter nominierte und unterstützte. In dieser Zeit hat sie nicht begonnen, nichts prinzipiell Neues und Anderes zu tun. Geändert hat sich einfach die Haltung des Staates, der Sicherheitsdienste zu ihr.

Noch komplizierter ist es mit den „Verrätern“ oder „Komplizen von Terroristen“. Zu Verrätern kann man unter Berücksichtigung der Flexibilität der russischen Gesetzgebung jeglichen rechnen, der mit dem offiziellen Standpunkt nicht einverstanden ist. (Heutzutage betrifft dies vor allem die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine.) Und zu einer Unterstützung eines Terroristen kann eine Geldüberweisung an eine Person werden, den der Bürger lange Jahre als einen normalen Politiker und Oppositionellen angesehen hatte. Inwieweit musste sich die geopolitische Situation verändern, damit solchen Menschen selbst theoretisch die Höchststrafe droht?