Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko, der sich in der vergangenen Woche an das Volk und das Parlament wandte, rief nicht nur Russland und die Ukraine auf, eine Feuereinstellung ohne eine weitere Verlegung von Truppen und Technik zu verkünden, und drohte nicht nur an, auf dem Territorium seines Landes im Bedarfsfall neben taktischen auch strategischen Kernwaffen zu stationieren, sondern sprach sich ebenfalls über die eigene Zukunft an der Macht aus. „Ich bin gesättigt“, sagte er. „Ich habe nicht vor, in diesem Amt zu sterben. Ich werde niemals eine „hinkende Ente“ sein. Man muss jegliches Gerede über die Erbfolge, über eine Kontinuität beenden. Meine Kinder werden keine Präsidenten sein. Aber solange wir zusammen mit Ihnen (das heißt, mit dem im Saal anwesenden Personen – „NG“) leben, werden wir unsere Errungenschaften nicht hergeben“.
Die Beziehungen mit Russland würden nach Aussagen Lukaschenkos einen allumfassenden und mehrschichtigen Charakter tragen. „Niemand hat sich unter irgendwen gelegt“, sagte der belorussische Präsident mit seiner gewohnten Direktheit. „Man darf den Menschen nicht damit Angst machen, dass sich Putin hier Weißrussland einverleibte“. Derweil hat sich das Gerede von einer Verwandlung des Unionsstaates in einen gemeinsamen in den letzten Jahren nur gehäuft. Und die militärische Sonderoperation ist scheinbar in der Lage, die Integrationsprozesse zu beschleunigen. Die Stationierung von Kernwaffen ist dafür ein Beispiel.
Bemerkenswert sind die Ergebnisse einer Umfrage, die die Moskauer Stiftung „Öffentliche Meinung“ veröffentlichte. Diese Meinungserhebung galt den Beziehungen Russlands und Weißrusslands. Die vorangegangene Untersuchung zu diesem Thema hatte die Stiftung noch vor der militärischen Sonderoperation durchgeführt. Damals, im Jahr 2021, hatten 55 Prozent der Befragten erklärt, dass sich zwischen beiden Ländern „gute Beziehungen“ herausgebildet hätten. Jetzt meinen dies 76 Prozent. 46 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass sich diese Beziehungen verbessern würden. Vor zwei Jahren hatten dies lediglich 32 Prozent gesagt. Positiv gegenüber Lukaschenko verhalten sich 59 Prozent der befragten Bürger Russlands (41 Prozent im Jahr 2021).
Allerdings kann man vor dem Hintergrund des offenkundigen Einfrierens der Kontakte Russlands mit vielen westlichen Staaten und einigen früheren Republiken der UdSSR solch einen Trend als einen zu erwartenden ansehen. Interessanter sind die konkreten Fragen zur Integration. Im Jahr 2021 hatten nur 17 Prozent angenommen, dass sich Russland und Weißrussland in den nächsten Jahren zu einem gemeinsamen Staat vereinigen könnten. 56 Prozent hatte keine solche Möglichkeit gesehen. Und dies war der höchste Wert für die Skepsis in den letzten 20 Jahren. Heutzutage aber erwarten 45 Prozent keine baldige Vereinigung, 28 Prozent erwarten sie dagegen aber.
Bemerkenswert ist, dass es in der Geschichte der Untersuchungen der Stiftung „Öffentliche Meinung“ einen Zeitraum gegeben hatte, als der Anteil derjenigen, die eine Vereinigung erwarteten, größer als der Anteil jener war, die nicht daran glauben. So etwas wurde in den ersten fünf Jahren des 21. Jahrhunderts beobachtet. Erklären konnte man dies mit dem postsowjetischen Ressentiment, der Energie Putins und Lukaschenkos und dem Wunsch, zu den Strukturen der UdSSR nach den schmerzhaften Erfahrungen der 90er zurückzukehren. Schrittweise, entsprechend der Zunahme des Wohlstands der Bürger der Russischen Föderation, begann das Thema eines gemeinsamen Staates, in den Hintergrund zu geraten und an Popularität zu verlieren.
Damals aber, in den ersten fünf Jahren des neuen Jahrhunderts, waren über 70 Prozent der von der Stiftung „Öffentliche Meinung“ Befragten bereit, für eine Vereinigung mit Weißrussland bei einem hypothetischen Referendum zu stimmen. Später ließ der Enthusiasmus nach. Lange Zeit wurden überhaupt keine Umfragen zu diesem Thema durchgeführt. Eine Untersuchung aus dem Jahre 2021 fixierte 59 Prozent für eine Unterstützung der Idee einer Vereinigung. Nunmehr macht dieser Wert 66 Prozent aus. Anders gesagt: Wenn man ein Referendum über eine Vereinigung abhalten würde, würde sie, die Vereinigung, wahrscheinlich stattfinden. Es macht Sinn, ins Kalkül zu ziehen, dass der Prozentsatz von den real abstimmenden Bürgern allem Anschein nach noch höher gewesen wäre. Die soziologische Basis für eine Vereinigung ist in der Russischen Föderation bereits. Und schon lange.
Alexander Lukaschenko ist nach seinen Worten nicht bereit, „die Errungenschaften herzugeben“. Die Unabhängigkeit des Landes kann man als eine solche Errungenschaft ansehen. Lange Zeit hatte sich auch der weißrussische Präsident durchaus unabhängig verhalten, indem er zwischen Moskau und dem Westen lavierte. Die Proteste des Jahres 2020 haben ihm den Weg gen Westen versperrt und ihn endgültig in die Einflusssphäre Russlands versetzt. Wenn Lukaschenko nicht bereit ist, sich „bis zum Tod“ an das Amt zu klammern, wird sich da sein Nachfolger an die Eigenständigkeit festklammern?