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Über die Wiedereinführung der Todesstrafe in Russland


Dmitrij Peskow, der Pressesekretär des russischen Präsidenten, hat erklärt, dass der Kreml sich nicht an der Diskussion über eine Aufhebung des Moratoriums für die Todesstrafe beteilige. Das Thema war nach dem Terrorakt in der „Crocus City Hall“ zu einem aktuellen geworden. Laut Angaben mehrerer Quellen erfolge eine Diskussion auch in den herrschenden Kreisen. Und die Meinungen würden dort auseinandergehen. An der Oberfläche sind Äußerungen von Parlamentariern. Spitzenvertreter der KPRF, der LDPR und der Partei „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ haben die Wiedereinführung der Höchststrafe für Terroristen unterstützt.

Ist es leicht, dies zu bewerkstelligen? Senator Andrej Klischas (er selbst ist kein Anhänger der Todesstrafe) erklärte, dass die Duma und der Föderationsrat in dieser Frage das Verbot des Verfassungsgerichts nicht überwinden könnten. Der Vorsitzende dieses Gerichts, Valerij Sorkin, hatte bereits im vergangenen Sommer gesagt, dass für eine Wiedereinführung der Höchststrafe Änderungen am Grundgesetz unzureichend seien. Es müsse ein neues verabschiedet werden. Der stellvertretende Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für den Staatsaufbau und Verfassungsfragen, Jurij Sinelstschikow, erklärte seinerseits, dass die Todesstrafe in Russland von keinem aufgehoben worden sei. Die Anwendung dieser Maßnahme sei einfach einst entsprechend internationalen Verpflichtungen ausgesetzt worden. Anders gesagt: Ein Erlass des Präsidenten ist ausreichend, um diese Bestrafung wieder einzuführen. Einer der Koautoren des Verfassungstextes, Sergej Schachrai, sagte ungefähr dies: Die Bewahrung oder Aufhebung des Moratoriums sei heute ein Prärogativ der russischen Offiziellen, sie würden durch keinerlei internationale Normen eingeschränkt werden. Und eine Hinrichtung an sich werde durch das Strafgesetzbuch vorgesehen.

Wahrscheinlich werden in der nächsten Zeit auch Ergebnisse soziologischer Umfragen zu diesem Thema auftauchen. Der Terrorakt in der „Crocus City Hall“ hat die Gesellschaft erschüttert. Und es ist leicht anzunehmen, dass die Verfechter einer Aufhebung des Moratoriums bezüglich der Todesstrafe mehr werden. Die rationalen Argumente gegen die Höchststrafe hat keiner gecancelt. Darunter auch nicht den Verweis darauf, dass in den Ländern mit der Todesstrafe immer noch Verbrechen verübt werden, darunter auch durch Terroristen. Hier geht es allerdings um eine emotionale Reaktion. Und das Publikum kann man natürlich noch pushen. Dies können sowohl Politiker als auch bekannte kremlnahe Journalisten und Publizisten tun.

Dennoch ist eine rationale Pause in dieser Frage erforderlich. Inwieweit ist das System der Rechtsprechung in Russland an sich zu solchen Transformationen bereit? Schließlich verlangt ein solches Urteil unumstößliche Schuldbeweise. Die Funktionen der Verteidigung, der Anwaltschaft müssen erschöpfende seine. Die Angeklagten müssen das Recht haben, alle mögliche Beweise für ihre Unschuld vorzubringen. Die Prozesse müssen frei in den Massenmedien gecovert werden. Wenn diese Forderungen nicht eingehalten werden, verwandelt sich der Wortlaut der Anklage beinahe automatisch in den Wortlaut des Urteils. Darf man unter solchen Bedingungen das System mit dem Recht einer unumkehrbaren Bestrafung ausstatten?

In der letzten Zeit wird der Weg von einem „Nichteinverstandenen“ und „ausländischen Agenten“ zu einem Extremisten und Terroristen in Russland sehr schnell zurückgelegt. Dafür sind nicht einmal Vorwürfe hinsichtlich gewaltsamer Verbrechen oder deren Vorbereitung nötig. Man kann sich da an den kürzlichen Telegram-Post des stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates, Dmitrij Medwedjew, erinnern. Er hatte geschrieben, dass die Straftaten in Wahllokalen „kein Kinderspiel mit Streichhölzern und kein harmloser Streich mit Brillantgrün“ seien, sondern ein Verrat und Landesverrat. Und dafür könne man „für 20 Jahre hinter Gitter mit einem besonderen Regime geraten“. Von einem Landesverrat bis zu Terrorismus ist es ein Schritt. Es wird nicht schwer sein, den entsprechenden Anklagetext abzufassen.

Die Appelle, die Geschichte nicht zu vergessen, erklingen in Russland sehr oft. Und es ist eine Wahrheit: In seiner jüngsten Geschichte hat unser Land bereits Erschießungen erlebt. Es genügt, sich die sogenannten Stalinschen Erschießungslisten vorzunehmen. In ihnen waren die Namen zehntausender Menschen. Die überwältigende Mehrheit dieser Menschen ist in den Jahren 1956-1958 rehabilitiert worden. Der Staat hatte eingestanden, dass man den Menschen das Leben genommen hatte, indem man sich von der politischen Konjunktur leiten ließ. Ist heutzutage das System vor solch einem konjunkturellen Charakter gesichert, gibt es Garantien? Wenn nicht, so kann man gleichzeitig mit der potenziellen Wiedereinführung der Todesstrafe auch über die Bildung von Rehabilitierungskommissionen nachdenken.