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Über die Ziele der militärischen Sonderoperation und das Vergeltungsmotiv


Der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitrij Medwedjew, hat in seinem Telegram-Kanal geschrieben, dass die Schuldigen an der Ermordung friedlicher Einwohner des Donbass eine „verdiente Bestrafung“ erwarte. Gerade daher, so der Ex-Präsident und Ex-Premier Russlands, „muss die militärische Sonderoperation bis zur vollkommenen Realisierung ihrer Ziele erfolgen, bis zu einem endgültigen Sieg über jene, die acht Jahre lang das eigene Volk Schikanen und einer Ausrottung ausgesetzt haben“.

An die Rhetorik von Dmitrij Medwedjew muss man sich schon nicht mehr gewöhnen. In seinen Posts ändert sich nur die Lexik, wobei in Richtung einer immer größeren Schärfe und Kompromisslosigkeit. Jedoch bleiben dennoch Fragen zu den Veröffentlichungen des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates. Zum Beispiel: Alle Vertreter der Machtorgane, vom Präsidenten bis zu ministerialen Beamten oder einfachen Abgeordneten, sagen, dass die Ziele und Aufgaben der militärischen Sonderoperation erfüllt werden müssten. Aber bei weitem nicht alle treten von maximalistischen Positionen aus auf. Selbst Präsident Wladimir Putin unterstreicht bei Treffen mit ausländischen Delegationen: Russland sei nicht gegen Friedensverhandlungen. Dies seien die ukrainischen Herrschenden, die sie ablehnen würden, nachdem sie auf gesetzgeberischer Ebene das Verbot verankert hätten, solch einen Dialog zu führen. Man kann unterschiedlich diese Worte interpretieren. Aber der Ton und der Inhalt der Telegram-Publikationen des 57jährigen Dmitrij Medwedjew scheinen ganz und gar keine derartige Möglichkeit – sich mit den ukrainischen Offiziellen an einen Verhandlungstisch zu setzen – vorzusehen.

Anders gesagt: Die herrschende Elite der Russischen Föderation an sich markiert im öffentlichen Raum unterschiedliche Herangehensweisen an die Beendigung des Konflikts. Dies ist sowohl ein politisch-diplomatischer Weg (sich zu einigen, aber zu unseren, den russischen Bedingungen) als auch ein politisch-populistischer (bis zum Ende zu gehen und die Verbrecher nicht zu verschonen). Die Publikationen von Dmitrij Medwedjew kann man als seine persönliche Meinung auffassen. Er ist aber schon lange keine Privatperson mehr, sondern ein hochrangiger Machtvertreter. Von daher die unweigerlichen Fragen: Wer unterstützt aus der herrschenden Elite noch solch einen Weg? Wie viele Menschen sind dies? Wie einflussreich sind diese Kreise? In welchem Maße beeinflussen sie die zu treffenden Entscheidungen hinsichtlich der militärischen Sonderoperation? Dies sind keine an den Haaren herbeigezogene Fragen, sondern der Kontext des Lebens des Landes. Bei einem offenen politischen System und dem Zulassen jeglicher Diskussion würde das Bild sofort klar werden. Unter den Bedingungen, unter denen die wahre Politik – der Kampf um einen Einfluss – hinter den Kulissen bleibt, gibt es jedoch keinerlei Klarheit für die Gesellschaft.

In der Veröffentlichung des russischen Expräsidenten ist klar das Motiv einer Vergeltung bzw. Rache, einer Bestrafung für verübte Verbrechen auszumachen. Innerhalb von acht bzw. neun Jahren ist es in Kiew zu einem Machtwechsel gekommen. Und sicherlich ist es nicht sehr leicht, das Maß der Verantwortung eines jeden Politikers und Vertreter des Staates zu bestimmen. Der Konflikt dauert bereits mehr als 560 Tage an, mehr als anderthalb Jahre. In dieser ganzen Zeit akkumulieren sich Anlässe für eine Vergeltung, wobei auf beiden Seiten. Bedeutet dies, dass die Ziele und Aufgaben der eigentlichen Sonderoperation korrigiert werden? Oder müssen die anfangs erklärten Ziele und Aufgaben im Geiste einer Bestrafung und Vergeltung interpretiert werden? Dies sind ebenfalls keine unwichtigen Fragen für die Gesellschaft. Schließlich ging es im Februar vergangenen Jahres um die Notwendigkeit, den Donbass zu verteidigen. Und seitdem musste ständig präzisiert werden, was für solch einen Schutz erforderlich ist, da sich der Kontext veränderte.

Die militärische Sonderoperation ist kein Thema der öffentlichen Politik in Russland. Die Parteien riskieren es einfach nicht, darüber zu streiten. Dies ist aber natürlich ein Thema, das die Bürger bewegt. Unabhängig von der generellen Position erwarten die Menschen in der Regel eine baldige Beendigung des Konflikts, die Rückkehr der gewohnten Lebensbedingungen, die Heimkehr der Nächsten – als lebende und gesunde – aus der Zone der Kampfhandlungen. Wenn eine hochrangige Person darüber spricht, dass Russland nicht gegen Verhandlungen sei, so skizziert dies eine, wenn auch schwierige Perspektive. Wenn eine andere Person von der Notwendigkeit spricht, bis zum Ende zu gehen und alle zu bestrafen, kann man dem emotional zustimmen. Jedoch zeichnet sich eine andere Perspektive ab. Das Ende des Konflikts verschiebt sich. Von der Gesellschaft werden eine aktivere Beteiligung und die Bereitschaft zu neuen Opfern gefordert. Und für sie, die Gesellschaft, ist es da wichtig zu begreifen, wohin die Herrschenden tendieren.