Bei seinem Auftritt im auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments hat am 7. September dieses Jahres NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg mehrmals verständlich eingestanden, dass „Putin aufgrund der Befürchtungen hinsichtlich einer weiteren Ausdehnung der NATO die Entscheidung über den Einmarsch in die Ukraine getroffen hatte“.
Das Leitmotiv der Position Stoltenbergs war das Erinnern daran, wie Putin im Dezember des Jahres 2021 den USA und der NATO vorgeschlagen hatte, zwei Abkommen über eine Nichterweiterung der Allianz und eine Demontage deren Infrastruktur um Russland, die nach 1997 geschaffen worden war, zu unterschreiben. Und da hatte es keinerlei Kampfhandlungen (in der Ukraine) gegeben. „Natürlich“, konstatierte Stoltenberg, „hatten wir es abgelehnt, diese Dokumente zu unterzeichnen“.
Laut Stoltenberg ergibt sich, dass Putin die militärische Sonderoperation nicht begonnen hat, weil er das verkörperte Böse und ein Hasser der Freiheit ist, sondern weil er als Oberhaupt eines großen Landes sich nicht erlauben konnte, die aktiven Handlungen der „friedliebenden Allianz“ an seinen Grenzen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Faktisch bestätigt Stoltenberg die Vermutung darüber, dass man, wenn die NATO einer Nichterweiterung der Allianz zugestimmt hätte, den Konflikt, die Opfer und Entbehrungen hätte vermeiden können.
In den USA publizierte der Anführer der Minderheit im Senat, der Republikaner Mitchell „Mitch“ McConnell Jr., dieser Tage auf seinem Twitter-Account ein erstaunliches Eingeständnis: „Unser Widerstand mit den Verbündeten gegen die russische Aggression ist kein Akt von Wohltätigkeit. Faktisch ist dies eine direkte Investition in eine Auffüllung des Arsenals Amerikas mit amerikanischen Waffen, die von amerikanischen Arbeitern hergestellt worden sind. Die Erweiterung unserer Rüstungsindustrie versetzt Amerika in eine stärkere Position in der Konfrontation mit China“.
Es hat sich da eine paradoxe Situation ergeben: Wenn Stoltenberg, McConnell und andere Vertreter der Machtorgane sprechen, wird dies als eine Norm aufgefasst, der man keine Aufmerksamkeit schenkt. Wenn aber das Gleiche einfache Menschen, Journalisten oder Kommentatoren sagen, rechnet man sie sofort zur Kohorte der „Kreml-Propagandisten“, die „Moskaus Narrative“ verbreiten.
Jeglicher, der öffentlich sagen würde, „die NATO hat den Konflikt durch den inständigen Wunsch, die eigenen Grenzen auszudehnen und sich so Moskau zu nähern, provoziert. Und die Eskalierung der Kampfhandlungen und die Verstärkung von Waffenlieferungen an die Ukraine dienen den amerikanischen Interessen hinsichtlich einer Modernisierung ihres Militärpotenzials unter Berücksichtigung des Abzielens auf einen unweigerlichen Konflikt mit China“, wäre als ein Agent des Kremls bezeichnet worden.
Der Begriff „russische Propaganda“ wird extrem weit ausgelegt. Im Gesetz über digitale Serviceleistungen (Digital Services Act) rechnet man dazu beispielsweise „ein ideologisches Gleichzeihen mit dem russischen Staat“, Materialien, die einer Zensur unterliegen, und die Menschen, auch wenn sie einen Original-Content erzeugen, inhaltlich aber „wie Papageie sind, die die Kreml-Narrative verbreiten, die auf ein konkretes Publikum abzielen“. Anders gesagt: Man rechnet jeglichen aktiven und lautstarken Kritiker der Außenpolitik des Westens augenblicklich zur propagandistischen Ressource des Kremls.
Unter solchen Bedingungen ist einer Aufklärung der Wahrheit in einer inhaltlichen und gegenstandsbezogenen Diskussion von Menschen mit entgegengesetzten Einschätzungen des Geschehens unmöglich. Und ein Austausch von „propagandistischen Narrativen“ dient ganz bestimmt nicht diesem Ziel.
Propaganda ist stets nicht auf die Suche nach der Wahrheit orientiert, sondern ausschließlich auf eine Konsolidierung der eigenen Anhänger. Zur gleichen Zeit – da das Wort „Propaganda“ auch den eigentlichen Propagandisten nicht gefällt – ersetzt man es immer häufiger durch das Wort „Narrativ“. Dies klingt wissenschaftlicher und edler. Jedoch verschleiert es nicht das Wesen. Der heutige Staat kontrolliert das dominierende Narrativ als eine zentrale Interpretation des Geschehens.
Die wahren Motive sind, wie wir im Fall mit den Erklärungen von Stoltenberg und McConnell gesehen haben, nicht Teil des inhaltlichen, des gedanklichen Körpers des entscheidenden dominierenden Narrativs.
In solch einem Kontext ist es schwer, bahnbrechende Ideen zu erwarten, die in der Lage sind, die Frage nach einer Beendigung der militärischen Konfrontation in der Ukraine zu stellen. Die Menschen, die über Frieden sprechen, werden als Verräter, Opportunisten und Defätisten gescholten. Das Studium führender westlicher Massenmedien ist in diesem Sinne aufschlussreich.
„The Economist“ behauptet, dass man sich auf einen „langen Krieg“ vorbereiten müsse, auf einen „Krieg bis zur Erschöpfung“, auf entscheidende Auseinandersetzungen im Frühjahr kommenden Jahres. Daher sei es erforderlich, die Lieferungen von Offensivwaffen aller Typen für die Ukraine zu erweitern.
Parallel berichtet „The New York Times“ über einen Umbau der russischen Industrie für die Fertigung von Panzern, Geschossen und anderen Typen von Waffen als ein Ressourcenfaktor in einem Krieg bis zur Erschöpfung. Auf derartige Überlegungen reagiert man im Westen nervös, wobei man sich die Frage stellt, wie man dem die gesamten Produktionskapazitäten der Verbündeten der Ukraine entgegenstellen kann.
Eine Erschöpfung der Ressourcen am Schlusspunkt des Konflikts ist eine unerfreuliche Perspektive für die ausgelaugten Seiten. Die Überlegungen zu diesem Thema sind die besorgniserregendsten. Aber nicht für Stoltenberg und McConnell als Vertreter mächtiger Institutionen, die eigene strategische Aufgaben lösen.
Folglich müssen wir uns selbst Gedanken machen. Es gibt keine anderen dafür.