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Über Putin und Russland heute


1. Putin arbeitet alle prinzipiellen Entscheidungen persönlich aus, auf der Grundlage der eigenen Zuständigkeit, Kompetenz und einem Gefühl von historischer Verantwortung. Ein markanter Beleg dafür war der Auftritt des Präsidenten am 14. Juni dieses Jahres im Außenministerium mit einer Darlegung der entscheidenden Aussagen zu den russischen Prioritäten in der Außenpolitik und bei der Gestaltung einer neuen Weltordnung. Die meisten Teilnehmer der Beratung waren von einem maximal halbstündigen Auftritt des Staatsoberhauptes ausgegangen. Tatsächlich sprach Putin fast 80 Minuten zu den Thesen, die von ihm persönlich verfasst worden waren, was er später Journalisten mitteilte.
2. Die Aufgabe zur Gewährleistung der Sicherheit des Landes und zur Verteidigung der Russen und Russischsprachigen in der Ukraine, die seit 2014 vor Putin steht, verwandelte sich für ihn zum hauptsächlichsten existenziellen Gedanken der Führungstätigkeit. Irgendwem die Macht vor der endgültigen, durch internationale Garantien untersetzten Lösung dieser Frage zu übergeben, kann er nicht. Weil dies eine Übergabe nicht so sehr der Macht als vielmehr eines soliden Pakets ungelöster Probleme an den Nachfolger bedeuten würde. Zum heutigen Tag gibt es keine Menschen in der Umgebung Putins, die in der Lage sind, die Probleme besser als der Präsident zu lösen. Er weiß darum und ist davon fest überzeugt.
3. Putin hat nicht vor zurückzutreten. Anfang September hatte sich eine Schülerin in Tuwa beim Präsidenten interessiert: „Wie würden Sie ihren Tag verbringen, wenn Sie ein gewöhnlicher freier Mensch, d. h. nicht Präsident sein würden?“. Putin antwortete kurz und klar: „Für mich ist es schwer, sich dies jetzt so vorzustellen, etwas in hypothetischer Form darzulegen“. Dies ist eine überaus wichtige Message der letzten Zeit sowohl für die seinen als auch für andere: Gehen Sie in den eigenen Szenarios für die Zukunft von der Tatsache meiner Präsenz an der Spitze Russlands aus! Damit hatte Putin die in Träumen, in Wolken und Illusionen schwebenden zahlreichen westlichen Politiker und oppositionellen Experten auf den Boden zurückgeholt, die behaupten, dass, „wenn es Putin gibt, dies ein Problem ist. Wenn es Putin nicht gibt, gibt es kein Problem“. Putin gibt es aber.
4. Heute ist es völlig offensichtlich, dass die Welt, die mehr als zwei Jahre mit dem Risiko einer nuklearen Bedrohung lebt, für wahre Verhandlungen zu diesem Thema herangereift ist. Jedoch ist die Durchführung erfolgreicher Gespräche fraglich. Der ernsthafteste westliche Politiker, der tatsächlich die Folgen eines Nuklearkrieges begreift, ist Joseph Biden, der leider in einigen Monaten abtreten wird. Weder Harris noch Trump besitzen die entsprechende außenpolitische Qualifikation, um überhaupt die Bedeutung dieses Themas für die Welt zu begreifen.
5. Die vergangenen Jahre und Monate der militärischen Sonderoperation, der überaus harten Sanktionen und der radikalen Transformation der Triebkräfte der russischen Wirtschaft haben eindeutig gezeigt, dass es für das einheimische (russische) gesellschaftliche und politische Bewusstsein an der Zeit ist, entschieden die Vorstellungen aufzugeben, die einst von Brzeziński verbreitet wurden, wonach die Größe Russlands auf der Einheit mit der Ukraine beruhe. Möge man die Ukraine aus der Einflusssphäre Moskaus herauslösen, und Russland werde als Großmacht zu existieren aufhören. Heute ist offensichtlich, dass Russland unabhängig vom Grad der Nähe zu irgendeinem Land oder irgendeiner Gruppe von Ländern in der Welt existiert. Die Befreiung von spekulativen Konstruktionen in den Köpfen einflussreicher Ideologen ist ein gewaltiger Faktor für eine Normalisierung des Prozesses der Entwicklung und Bewertung fundamentaler Risiken und Möglichkeiten. Russland kann eine große und wichtige Macht sein – unabhängig vom Grad der Integration mit anderen Ländern. Die Größe eines Landes wird entsprechend dem Niveau des Wohlergehens und dem Grad der Möglichkeiten der Bürger, entsprechend den Errungenschaften im Gesundheits- und Bildungswesen, in der Wissenschaft und auf dem Gebiet der Technologien bewertet.
6. Spricht man von der Wirtschaft Russlands, muss man ein einfaches Detail im Blick haben. Der in der Staatsduma vorgelegte Entwurf des föderalen Haushalts geht von einem Erdölpreis von 60 US-Dollar je Barrel aus. Doch laut Prognosen werde der durchschnittliche Jahrespreis für Erdöl im Jahr 2025 69 US-Dollar je Barrel ausmachen. Dies ist ein sehr großes Maß an Konservatismus, Realismus und nüchterner Berechnung der Mischustin-Regierung. Man kann erwarten, dass die Wirtschaft der Russischen Föderation die Lenkbarkeit und ein Entwicklungstempo bewahren wird, die die gestellten Aufgaben zu lösen erlauben. Und die offensichtlichen strukturbedingten und technologischen Schwierigkeiten im kommenden Jahr werden keine entscheidende Bedeutung besitzen. Entscheidende Bedeutung haben bei dem bestehenden Entwicklungsniveau der Industrie der ausgewogene Charakter des Etats und die Währungsstabilität.
7. Die Kampfhandlungen erlauben heute zu urteilen, dass das Hauptziel der russischen Truppen auf dem Boden das Erreichen der administrativen Grenzen der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk ist. Beim Aufzählen der Aufgaben verwendet Putin immer häufiger solch eine Lexik: Befreiung der Verwaltungsgebiete Donezk und Lugansk sowie Neurusslands (Noworossia). Es kann angenommen werden, dass Noworossia lediglich einen Teil der Verwaltungsgebiete Cherson und Saporoschje darstellt. Das Wichtigste hier ist die Verbindung mit der Krim auf dem Festland. Wenn diese Beobachtungen richtig sind, kann man sich gegenständlicher ein Bild vorstellen, das erlaubt, den Abschluss der militärischen Sonderoperation als einen erfolgreichen zu bezeichnen, und deren Ziele – als erreichte.
8. Es muss unterstrichen werden, dass sich in den letzten Monaten eine offenkundige Veränderung der Bewertung der ukrainischen Staatlichkeit und deren Subjet-Charakters durch die russische Führung vollzogen hat. Dies ist ein überaus wichtiger Unterschied im Vergleich zum Beginn der militärischen Sonderoperation. Heute erkennt Russland an, dass eine signifikante Anzahl von Einwohnern der Ukraine eine Wahl zugunsten der im Land herrschenden Offiziellen trifft, sich als Ukrainer ansehen und keinerlei Zukunft gemeinsam mit Russland sehen wollen. Damit erkennt die russische Führung den Staat Ukraine an. Während im Westen das Narrativ verbreitet wird, dass Moskau die Ukraine als einen Staat vernichten wolle. Dies ist eine offenkundige Diskrepanz in Bezug auf die heutigen Realitäten. Mehr noch, gerade das ausgewiesene Narrativ erlaubt den westlichen Politikern zu erklären, dass Russland nach der Vernichtung der Ukraine weiter nach Europa gehen werde – nach Polen und in die baltischen Länder.
9. Wird über mögliche Verhandlungen (zur Beendigung des Konflikts zwischen Moskau und Kiew – Anmerkung der Redaktion) gesprochen, wird im Westen überhaupt nicht das Thema der Legitimität der Unterschrift von Selenskij in den Augen Putins erwähnt. Es sei ja offensichtlich, da Selenskij mit seinem „Friedensplan“ durch die Welt fliegt. Man möchte da gern die westlichen Partner vor einer vereinfachten Auslegung der Anmerkungen von Putin und dessen Besorgnis hinsichtlich dessen warnen, dass das Verfassungsgericht der Ukraine im Weiteren konstatieren könne, dass Selenskij seine Vollmachten nicht ordnungsgemäß verlängert habe und damit seine Unterschrift keine Rechtskraft besitze. „Man hat betrogen, übers Ohr gehauen, hängen gelassen und erneut übers Ohr gehauen“ werden als wertende Urteile darüber, warum nicht alles so gelaufen ist, wie man erwartete, nach der militärischen Sonderoperation für immer aus der Lexik der Politiker verschwinden. Das Niveau des gegenseitigen Vertrauens ist nicht einmal auf dem Null-Stand. Das totale Misstrauen löst heute das Bedürfnis nach Gewährung von sich erschöpfenden Verhandlungsvollmachten entsprechend einer möglichen juristischen Bestimmtheit aus.
10. Es scheint, dass heute das Thema einer neuen internationalen Ordnung, die den Staaten eine gleiche Sicherheit gewährt, in gleichermaßen für die kritische Mehrheit der Länder in der Welt – im Westen und im Osten – aktuell ist. Die Hauptfrage besteht darin: Wird es gelingen, ein neues völkerrechtliches Gerüst für eine friedliche Koexistenz nicht auf den Trümmern eines dritten Weltkriegs zu schaffen? Wir erinnern uns, dass der Friedensvertrag von Versailles und der Jalta-Potsdam-Frieden gerade auf den Trümmern/auf der Asche der Katastrophen des 1. und des 2. Weltkrieges erzielt worden waren. Aber die Menschheit ist doch verpflichtet, zumindest etwas zu lernen, sprich: Lehren zu ziehen! Und die künstliche Intelligenz hat da überhaupt nicht etwas damit zu tun.