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Über Russland senkt sich ein „Eiserner Vorhang“ herab


In Spaniens Hauptstadt ist ein Gipfeltreffen der NATO abgeschlossen worden, dass man nicht ohne Grund als einen Wendepunkt in der Geschichte der Allianz ansehen kann. Die Sache ist dabei nicht nur die, dass ihre Reihen erweitert werden: Begonnen hat der Prozess einer euro-atlantischen Integration von Schweden und Finnland. Die in Madrid verabschiedeten Erklärungen und Dokumente, unter denen auch eine Strategische Konzeption der NATO ist, belegen, dass die Allianz Kurs auf eine Konfrontation mit den geopolitischen Konkurrenten des Westens genommen hat. In größerem Maße mit Russland, in geringerem (vorerst in geringerem Maße!) mit China. Die NATO-Mitglieder stimmten einem Wettrüsten zu, einer Erweiterung ihrer Reihen und einer Aufstockung ihrer militärischen Präsenz in bestimmten Ländern. Das heißt, sie billigten all jene Schritte, die der Allianz bisher mit gewaltigen Mühen gelangten.

Bei einer Kommentierung unter anderem auch der Bilanz des NATO-Gipfels verwendete der russische Außenminister Sergej Lawrow bei einer Pressekonferenz in Minsk die Wortverbindung „eiserner Vorhang“, mit dem Winston Churchill seinerzeit die Grenze beschrieben hatte, die den sowjetischen Block von den USA und deren westeuropäischen Verbündeten getrennt hatte. Nach Aussagen des russischen Ministers senke sich der neue „eiserne Vorhang“ dank der Anstrengungen der Länder des Westens „praktisch bereits herab“. Lawrow empfahl ihnen nicht, „sich vorsichtig zu verhalten, um sich nichts abzuquetschen“. Außer dieser verschleierten Androhung (und diese Worte wurden in Kommentaren der westlichen Presse gerade so gewertet) bestätigte der Minister vom Wesen her, dass Russland auch bereit sei, seinen Vorhang herabzulassen. „Wir verschließen uns niemals. Ich sage lediglich nur, dass wir von nun an und im Weiteren weder den Amerikanern noch der EU glauben werden. Wir werden alles Notwendige unternehmen, um nicht von ihnen in kritisch wichtigen Branchen abzuhängen“, sagte er.

Und in der Tat, in den Abschlussdokumenten des Summits wurden die härtesten Formulierungen von allen möglichen in Bezug auf Russland fixiert, die einst nur in Bezug auf die UdSSR angewandt worden waren. Und dies auch nicht in allen Jahren des Kalten Krieges. So ist in der Strategischen Konzeption der Allianz die Politik der Russischen Föderation als „bedeutsamste und eine direkte Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für den Frieden und die Stabilität im euro-atlantischen Raum“ bezeichnet worden. Zum Vergleich: Die Handlungen Chinas wurden in dem gleichen Dokument insgesamt nur als eine „strategische Herausforderung“ für den Westen bewertet. Die Abschlusserklärung des Gipfels ist ebenfalls voll von scharfen Formulierungen. Eine „flagrante Verletzung des Völkerrechts“, die „erschreckende Brutalität Russlands“, „wir werden den Lügen Russlands entgegenwirken und dessen verantwortungslose Rhetorik zurückweisen“ – solche Formulierungen hatte es in derartigen Dokumenten noch nicht gegeben.

Zu einem unmittelbaren praktischen Ergebnis des Summits wird neben der Bestätigung eines neuen Hilfspakets für die Ukraine und der Erklärung von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wonach „es keine Liste von Waffen“ gebe, deren Übergabe an die Ukraine ausgeschlossen sei, das Ansteigen der Verteidigungsausgaben der Mitgliedsländer des Blocks. Bestätigt wurde unter anderem die Verpflichtung, die im Jahr 2014 übernommen wurde, wonach die Ausgaben für die Verteidigung mindestens zwei Prozent des BIP ausmachen sollen. Stoltenberg erklärte, dass neun Länder bereits diesen Parameter überschritten hätten, und 19 würden klare Pläne signalisieren, dies bis zum Jahr 2024 zu erreichen. Sich auf eine Reduzierung der Militärausgaben einzulassen, wird für die NATO-Mitglieder nun schwer werden, zumindest unter Berücksichtigung der Erhöhung der Stärke der schnellen Eingreiftruppe der Allianz. Nach Aussagen Stoltenbergs werde sie um das 7fache zunehmen – bis auf 300.000 Mann. Außerdem werden die Technologieinitiative „Defense Innovation Accelerator for the North Atlantic“ (DIANA) und ein spezieller Investitionsfonds etabliert, die an Aufgaben für eine Umrüstung der gesamten Allianz arbeiten werden. Dies ist sogar eine engere Koordination der Anstrengungen als in den Jahren des Kalten Krieges. Luftabwehrmittel werden nach Deutschland und Italien verlegt werden, verschiedene Waffenarten – ins Baltikum usw.

Dozent Alexander Tewdoi-Burmuli vom Lehrstuhl für Integrationsprozesse der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO beim russischen Außenministerium betonte in einem Kommentar für die „NG“, dass, obgleich die Erhöhung der Verteidigungsausgaben eine wesentliche Korrektur der Haushaltspolitik vieler NATO-Länder verlange, würden sie schrittweise dahin kommen. „Die Notwendigkeit dessen schien ihnen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keine offensichtliche zu sein. Jetzt scheint sie es zu sein. Es versteht sich, die Länder der Allianz werden sich nicht in gleichartiger Weise dahin bewegen. Der Trend ist absolut klar“, meint er. Nach Meinung des Experten würden hier die größten Mitgliedsstaaten der Allianz die Flaggschiffe sein. Davon, wieviel sie auszugeben bereit seien, würden auch die Ausgaben der kleineren Länder abhängen.

Der Umrüstungsprozess der Armee der Allianz beginnt im Grunde genommen schon. US-Präsident Joseph Biden offenbarte bei seiner Pressekonferenz zu den Ergebnissen des Gipfeltreffens vom Wesen her die Ursache, weshalb der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan unerwartet sein Veto gegen eine Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Allianz zurückgezogen hatte. Das Protokoll über den Prozess ihrer euro-atlantischen Integration war wohlbehalten in Madrid unterzeichnet worden. Die USA geben den Prozess des Verkaufs von Waffen an die Türkei frei, der faktisch nach dem Erwerb russischer S-400-Lauftabwehr-Raketensysteme durch dieses Land auf Eis gelegt worden war. Biden erklärte, dass er für einen Verkauf modernisierter F-16-Flugzeuge an die Türken plädiere. „Es ist nicht in unserem Interesse, dies nicht zu tun“, sagte er. Die Türkei plante, 40 F-16-Jagdflugzeuge zu erwerben. Ihr Erwerb wurde von Erdogan als eine Wiedergutmachung für den Ausschluss des Landes aus dem Programm zum Bau des F-35-Jagdflugzeuges angesehen (damit hatten die USA das Land für den Erwerb der russischen S-400-Komplexe bestraft). Aus der Sicht des türkischen Staatsoberhauptes müsse es um eine Wiedergutmachung nicht nur des materiellen, sondern auch des sozusagen moralischen Schadens gehen. Schließlich würden diese Jets anstelle von Ankara an Athen geliefert werden. Übrigens, eine entsprechende amerikanisch-griechische Vereinbarung wurde am Mittwoch erzielt. Die Haltung der Biden-Administration hinsichtlich des Verkaufs von F-16-Flugzeugen war lange Zeit eine unbestimmte. Und da hat nun der Präsident der USA Klarheit geschaffen. Das letzte Wort muss natürlich der Kongress sprechen. Die Position des Präsidenten entscheidet aber in diesem Fall über Vieles, wenn nicht alles.

Wladimir Putin hatte früher versprochen, eine Antwort auf eine NATO-Erweiterung durch Finnland und Schweden nur in dem Fall zu geben, wenn in diesen Ländern eine militärische Infrastruktur der Allianz geschaffen werde. In dieser Hinsicht gibt es keine klaren Aussagen in den Entscheidungen des Madrider Gipfeltreffens. Die Direktorin des US-Geheimdienstes National Intelligence, Avril Haines, erklärte auf einer Pressekonferenz, dass es laut Angaben ihres Amtes in der nächsten Zeit praktisch keine Reaktion Russlands in Gestalt von Informationskampagnen auf die Erweiterung der NATO geben werde, da die Armee der Russischen Föderation in der Ukraine zu beschäftigt sei. Eine Reaktion müsse man, erklärte Haines, in der Perspektive erwarten.