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Über Russlands COVID-Föderalismus


Der Parteichef von „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ Sergej Mironow hat erklärt, dass seine Fraktion die Regierungsgesetzesvorlagen zum Einsatz von QR-Codes an öffentlichen Plätzen und im Transportwesen nicht unterstützen werde. Nach Meinung von Mironow „ist dies bereits eine Segregation nicht entsprechend den Papieren der Hygieneärzte der Regionen. Dies ist bereits eine Segregation auf föderaler Ebene“. Und „es ist eine Sache, zeitweilige Restriktionen bei einer Zunahme der Erkrankungsrate einzuführen, eine andere Sache, dies in einem föderalen Gesetz zu verankern“.

In der Tat, bisher hatte man den Regionen das Recht eingeräumt, zu bestimmen, mit welchen Maßnahmen und wann sie die Pandemie bekämpfen werden. Entscheidungen über QR-Codes waren lokale. Verantwortlich dafür waren die örtlichen Behörden. Im Kreml hatte man mehrfach unterstrichen, darunter auch in diesem Herbst, dass man die entsprechenden Vollmachten an die Regionen delegiere. Man kann sogar sagen, dass die Bekämpfung des Coronavirus gerade jener Bereich ist, in dem das Prinzip des Föderalismus in der Praxis und nicht auf dem Papier funktionierte. Eine andere Sache ist, dass die Regierenden der Regionen scheinbar ganz und gar nicht solch eine Verantwortung angestrebt hatten.

Der Wunsch der föderalen Regierenden, sich von der Praxis der Restriktionen zu distanzieren, ist generell verständlich. Jeden Tag finden in den russischen Regionen Mahnwachen gegen eine erzwungene Vakzinierung und obligatorische QR-Codes statt. Darin kopiert das russische gesellschaftspolitische Leben das europäische. Schließlich tritt man gegen analoge Maßnahmen sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden sowie in Italien und Frankreich auf. Darin, was die Herrschenden als Sicherheitsmaßnahme bezeichnen, sehen die Menschen eine übermäßige und mitunter auch eine beispiellose Bürokratisierung des Lebens mit weitreichenden Konsequenzen.

Anders gesagt: Die Einführung von QR-Codes ist eine unpopuläre Maßnahme. Die Herrschenden in Russland bemühen sich aber, unpopuläre Maßnahmen zu umgehen. Sie ziehen es vor, beim Rating zu punkten und nicht in dieses zwecks Unterstützung dessen zu investieren, was sie tatsächlich für notwendig erachten. Als die Rentenreform angeschoben wurde, musste Wladimir Putin den Schlag, den Schwall der Kritik auf sich nehmen, darunter auch hinsichtlich des Ratings. Aber jene Initiative konnte man in keiner Weise den Regionen zuschreiben.

Der COVID-Föderalismus versetzt die örtlichen Führungskräfte in ein Umfeld, in dem sie noch nicht gewesen waren, für das sie das System nicht geschult hat, in dem der Sieg bei den Wahlen beinahe von vornherein garantiert ist. Sie, die örtlichen Führungskräfte, müssen in sich Qualitäten wahrer öffentlicher Politiker entdecken. Sie müssen es verstehen können, die Menschen davon zu überzeugen, dass unpopuläre Maßnahmen notwendig sind, und ihnen nicht einfach anweisen, sich vakzinieren zu lassen, Codes zu erhalten und vorzulegen. Es muss gezeigt werden, wie die Einschränkungen wirken, warum sie nützlich sind und was sich ändert, wenn man sie einhält.

Vom Wesen her ist dies ein Casting für moderne Politiker. In einem normalen demokratischen System werden die Wahlen zu solch einem Casting. In den Regionen erfolgt dies nicht. Die Mandate für die Führung erhält man auf anderem Wege, beispielsweise durch eine Säuberung des politischen Feldes. Erst danach wird die gewählte Führungskraft mit der Realität konfrontiert. Und mitunter stellt sich auch heraus, dass er ihr allein gegenübersteht, wenn die föderalen Behörden ihre Hände in Unschuld zu waschen suchen. Die politische Realität der letzten Jahre hat gezeigt, dass das einem Politiker delegierte Vertrauen verbraucht und sehr schnell eingebüßt wird. Und die exorbitanten Werte am Tag der Abstimmung können bereits nach einem oder nach zwei Monaten bereits nichts mehr bedeuten, wenn irgend so etwas passiert, worauf ein Gouverneur oder Bürgermeister nicht auf die nötige Art und Weise reagieren.

Wahrscheinlich begreift man im Zentrum, dass die regionalen Herrschenden den Test der Gegenwart nicht bestehen können. Von daher auch die der Duma unterbreiteten Gesetzesvorlagen, der Versuch, dennoch einen Teil der Verantwortung auf die föderalen Schultern umzulegen. Die Gesetzentwürfe aus der Regierung von Premier Michail Mischustin werden wahrscheinlich auch ohne die Partei von Sergej Mironow oder die Kommunisten verabschiedet. Es genügt die Mehrheit der Kremlpartei „Einiges Russland“. Dies wird aber bedeuten, dass den Test – bereits nach den Dumawahlen vom letzten September – die regierende Partei ablegen wird. Aber die Statements des Parteichefs von „Gerechtes Russland – Für die Wahrheit“ weisen auf die Bereitschaft – zumindest auf eine anfängliche – der Duma-Opposition hin, das Thema der QR-Codes zu politisieren. Für „Einiges Russland“ kann dies zu einer weitaus ernsthafteren Prüfung als die „stillen“ Wahlen mit einem voraussagbaren Ergebnis werden.