Der Chef der EU-Diplomatie Josep Borrell hat erklärt, dass er persönlich ein Verbot für die Erteilung von Schengen-Visa mit einer kurzen Geltungsdauer für alle Bürger Russlands nicht unterstütze und solch eine Initiative beim anstehenden Treffen der EU-Außenminister in Prag wohl kaum von allen unterstützt werde. Zur gleichen Zeit schließen mehrere Quellen nicht aus, dass die Staaten der Europäischen Union ein vereinfachtes Prozedere für die Ausstellung von Visa für Bürger der Russischen Föderation verzichten würden. Dies kann beispielsweise eine Verlängerung der Zeitspanne für eine Prüfung der Anträge, eine Erhöhung der Visagebühren und Zunahme der Anzahl der erforderlichen einzureichenden Dokumente bedeuten.
Derweil hat der Leiter des kremlnahen Allrussischen Meinungsforschungszentrums (VTsIOM), Valerij Fjodorow, in einem Interview für die russische staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti angemerkt, dass die europäischen Reiserouten auch „bis zu den letzten Sanktionen die absolute Minderheit von Russlands Bürgern ausgewählt hatte“. Die übrigen haben billigere und einfachere Routen ausgewählt – nach Ägypten, in die Türkei und nach China. Überdies sei es für viele unangenehm, wie Fjodorow sagte, „dorthin zu fahren, wo man dich boykottieren, kränken und es ablehnen kann, mit dir in Russisch zu sprechen, selbst wenn man es kann, aber aus irgendeinem Grunde nicht will“.
Anders gesagt, selbst wenn Europa ein vollkommenes Verbot für die Erteilung von Visa für Bürger Russlands verhängt (was Borrell nicht verspricht), wird die entsprechend der Logik des VTsIOM-Chefs lediglich eine Minderheit betrüben, die sich ohne solche Reisen „nicht vorstellen kann“. Den übrigen wird alles egal sein. Für sie sind die Türkei und der Inlandstourismus zugänglich. Bei der Kommentierung der Aussagen Fjodorows zogen Nachrichten-Portale die Schlussfolgerung, dass Russland aufgrund der möglichen Probleme mit den Schengen-Visa keine soziale Explosion erwarte.
Es muss betont werden, dass es überhaupt schwierig ist, sich eine soziale Explosion in Russland gerade jetzt vorzustellen. Vor einem Jahr konnte man annehmen, dass die Bürger imstande sind, aufgrund der COVID-Restriktionen oder der Arbeitslosigkeit auf die Straße zu gehen. Die Herrschenden hatte solch ein Szenario beunruhigt. Den Gouverneuren war angewiesen worden, den öffentlichen Unmut zu beobachten. Es war schwierig gewesen, die Menschen, die mit einer konkreten sozial-ökonomischen Entscheidung oder der generellen Situation unzufrieden waren, als „ausländische Agenten“ zu bezeichnen. Heutzutage sind aber die Daumenschrauben so sehr angezogen worden, dass man jeden beliebigen auch zu einem Agenten erklären kann. Und die Menschen entschließen sich schlicht und einfach nicht zu Protesten. Was kann es für einen Protest geben, wenn die militärische Sonderoperation im Gange ist, Russland von Feinden eingekreist worden ist?! Wenn, so nur entsprechend einer Vorgabe äußerer Feinde. Man muss sich da zusammenschließen! Derart ist in groben Zügen die Logik der Herrschenden.
Was aber die Logik des bereits erwähnten Valerij Fjodorow angeht, so basiert sie auf einem recht spezifischen Begreifen der Freiheiten und Bedürfnisse. Dass die meisten Bürger Russlands nach Urlaubsorten suchen, die billiger sind, zeugt vom Grad des Wohlstandes der Bevölkerung, von ihrer materiellen Lage und ganz und gar nicht von ihren Wünschen und Bedürfnissen. Wenn sich vom Prinzip her der Kreis des Möglichen und der Kreis des Erreichbaren gerade jetzt decken, verliert der Mensch eine Perspektive und Stimulus. Die Freiheit einer uneingeschränkten Wahl setzt voraus, dass man auf etwas freiwillig verzichten kann. Dies ist aber nicht etwas, was verboten ist und vom Prinzip her zugänglich ist.
Gerade darum geht es auch hinsichtlich der Situation mit den Schengen-Visa. Es besteht ein Unterschied zwischen „ich kann mir dies jetzt nicht erlauben“ und „ich kann dort vom Prinzip her nicht sein“. „Ich kann nicht dorthin fahren, nun gut. Da sind ja doch Russophobe.“ Dies kann man schwerlich als eine Deklaration über eine freie Entscheidung bzw. Wahl bezeichnen. Dies ist der Fall, in dem das Erreichbare als das Erwünschte ausgewiesen wird und ideologisch flankiert wird.
Zur gleichen Zeit gibt es in den Worten von Valerij Fjodorow auch einen Gedanken, den aus irgendeinem Grunde ein Teil der europäischen Politiker ignoriert. Einige lassen sich natürlich von anderen Erwägungen leiten – sich vor den Russen abschotten, „noch etwas tun“, selbst wenn dies irrational ist. Es gibt aber auch jene, die der Annahme sind, dass die äußeren Visa-Sanktionen einen Unmut in Russland an sich auslösen werden, die imstande ist, Putins Politik zu ändern. Der Zustand der russischen Gesellschaft ist jedoch ein derartiger, dass faktisch wenige Schengen-Visa nutzen. Europa würde mit einem Verbot, Russlands Bürgern Visa auszustellen, in Vielem seine (russischen) Gleichgesinnten treffen. Sie zu stimulieren, auf die Politik des Kremls Einfluss zu nehmen, während es einfach keine reale Möglichkeit gibt, dies zu tun, ist aber in der überschaubaren Zukunft nicht abzusehen.