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Verschwindende Mitarbeiter und Job-Bewerber haben die Arbeitgeber schockiert


Die russischen Unternehmen sind aufgrund des Personal-Exodus nach den September-Ereignissen (am 21. September hatte Russlands Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung bekanntgegeben, um die ausgelichteten Reihen der russischen Truppen in der Zone der sogenannten militärischen Sonderoperation mit 300.000 Reservisten aufzufüllen – Anmerkung der Redaktion) verwirrt. Ein Teil von ihnen steht misstrauisch einem Arbeiten im Home-Office-Regime gegenüber. Mehrere Arbeitgeber sind mit Schein-Job-Bewerbern konfrontiert worden, die für eine Tätigkeit im jeweiligen Unternehmen eingestellt wurden, sich tatsächlich aber außerhalb Russlands wiedergefunden haben. Über solche Beobachtungen berichten Vertreter des Arbeitsmarktes. Laut Angaben des Personal-Unternehmens Ancor hat die Ausreise von Mitarbeitern drei Viertel der mehr als 650 befragten Unternehmen betroffen. Die Schätzungen hinsichtlich der Ausreise ins Ausland differieren, doch die rasante Ausreise selbst von mehreren Hunderttausenden Bürgern Russlands im arbeitsfähigen Alter sei, wie man im Gaidar-Institut meint, ein spürbarer Schlag.

Der Arbeitsmarkt ist mit einer Schock-Situation konfrontiert worden. Die Unternehmen sind aufgrund des Personal-Exodus verwirrt, darunter – wie sich herausstellte – auch im Frauenbereich. Ohne einheitliche Vorgehensweisen besitzend, treffen die Arbeitgeber als Antwort auf diese Herausforderungen oft chaotische Entscheidungen. Zu solch einem Fazit gelangten die Spezialisten von Anchor entsprechend den Ergebnissen einer Befragung von 652 Unternehmen.

Über die Hälfte der befragten (56 Prozent) sind russische Firmen. Auf die ausländischen Unternehmen entfallen 44 Prozent. Die Studie erfasste unterschiedliche Bereiche – das Auto-Business, die Förderung von Rohstoffen, die Landwirtschaft, den Handel, das Internet und den Telekommunikationssektor, den Gerätebau, Finanzdienstleistungen, das Bildungswesen, die Medizin u. a.

Unter den analysierten dominieren am meisten (39 Prozent) die Unternehmen, die eine Belegschaft von 300 bis 1000 Mitarbeitern haben. Weitere 28 Prozent der befragten sind Organisationen, in denen 1000 bis 5000 Mitarbeiter tätig sind. Der Anteil der Unternehmen mit weniger als 300 Mitarbeitern belief sich auf 21 Prozent. Die übrigen zwölf Prozent sind große Arbeitgeber mit mehr als 5000 Beschäftigten.

Also denn, laut Angaben der Untersuchung hat die Frage der Ausreise von Mitarbeitern 76 Prozent der befragten Unternehmen betroffen, obgleich dies in der Mehrzahl dennoch vereinzelte Fälle einer Ausreise ihrer Mitarbeiter gewesen waren. Es gibt jedoch auch solche Unternehmen, die eine Migration einer großen Anzahl von Mitarbeitern fixierten. Am häufigsten erklärten dies Arbeitgeber aus den Bereichen e-Commerce, Entwicklung von Software und Lösungen für eine Systemintegration sowie Internet-Unternehmen.

„Unter den Unternehmen, die von der Frage einer Ausreise von Beschäftigten tangiert wurden, verspürten 49 Prozent einen erheblichen Einfluss auf die Geschäftstätigkeiten“, präzisierten die Autoren der Studie. „Am meisten haben die Unternehmen mit einer geringen Belegschaft von bis zu 300 Mitarbeitern von einer signifikanten Wirkung aufgrund der Ausreise von Spezialisten im Vergleich zu anderen gesprochen“.

Zu einer Überraschung wurde dies, dass 54 Prozent der Unternehmen mit einer Ausreise von Frauen konfrontiert wurden, obgleich dies insgesamt auch vereinzelte Fälle waren. „Über einen großen Exodus weiblichen Personals informierten am meisten die Unternehmen aus den Bereichen der Entwicklung von Software und System-Integrationslösungen sowie des elektronischen Handels“, wird in der Untersuchung ausgewiesen. „Zusätzliche Informationen zeigen, dass die emigrierten Mitarbeiterinnen eigenständig die Entscheidung über die Ausreise getroffen haben und nicht anderen Familienmitgliedern gefolgt sind“.

Besonders eingegangen werden muss auf das Arbeiten im Home-Office-Regime. „Das Verhalten der Unternehmen hat sich in den letzten Monaten verändert. Während nach Beginn der (COVID-19-) Pandemie die Unternehmen massenhaft ein Home-Office-Regime einführten, sind jetzt lediglich 36 Prozent der Organisationen bereit, einer derartigen Maßnahme bei einer Ausreise von Mitarbeitern zuzustimmen“, heben die Forscher hervor.

Dabei ziehen es 16 Prozent aller befragten Arbeitgeber vor, sich vollkommen von den ausgereisten Arbeitnehmern zu trennen und sie nicht auf ein Arbeiten im Home-Office-Regime umzustellen. Wobei man sich unter den großen Arbeitgebern, die über 5000 Beschäftigte haben, weitaus häufiger von den Ausgereisten trennt als im Durchschnitt. Von ihnen sind fast ein Drittel (32 Prozent) vom Prinzip her nicht bereit, ihr verschwundenes Personal auf das Home-Office-Regime umzustellen.

Wenn man sich aber die Arbeitssuchenden anschaut, so sind laut Angaben der Untersuchung jetzt 29 Prozent der Kandidaten bereit, einen Job nur in solchen Unternehmen in Erwägung zu ziehen, die einen Schutz vor einer möglichen Einberufung für die militärische Sonderoperation sichern. Weitere 26 Prozent sind ausschließlich auf ein Arbeiten im Home-Office-Regime aus.

Die Arbeitgeber wurden dabei überraschend für sich mit einem sporadischen Auftauchen nicht nur von Mitarbeitern, sondern auch Job-Suchenden konfrontiert. Heute gibt es sie, morgen aber sind sie schon nicht mehr da. „Die Unternehmen wurden häufiger damit konfrontiert, dass ein Mitarbeiter nicht entsprechend der abgestimmten zeitlichen Rahmenbedingungen zur Arbeit erschienen ist. Der Kandidat verschwindet einfach“, wird in der Studie betont. Gleichfalls haben die männlichen Arbeitssuchenden begonnen, oft die Mitarbeiter der Personalabteilungen zu desinformieren, indem sie in der Vita die Bereitschaft ausweisen, beispielsweise im Büro in Moskau zu arbeiten. „Tatsächlich stellt sich aber heraus, dass die Person nicht im Land ist. Und er kann nur im Home-Office-Regime arbeiten“, berichteten die Autoren der Untersuchung.

„Die Durchführung der Teilmobilmachung hat für die Unternehmen zu einem Leistungsverlust nicht nur jenes Teils der Mitarbeiter geführt, die zum Militärdienst einberufen wurden. Wir beobachteten eine zweite Welle eines Exodus von Spezialisten vom Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Ausreise ins Ausland. Laut unterschiedlichen Schätzungen haben bis zu 500.000 Menschen das Land verlassen“, teilte Alexej Mironow, Anchor-Direktor für das Operationsmanagement, mit.

Es sei angemerkt, dass sich die Schätzungen wirklich unterscheiden. Früher konnte man auch beeindruckendere Zahlen für die Ausreise ins Ausland in der Presse finden, die man aber im Kreml als weit von der Realität bezeichnete.

„Die Schätzungen für die Dimensionen der Ausreise von Bürgern Russlands aufgrund der Teilmobilmachung im Bereich von 500.000 bis eine Million Menschen halte ich für stark überzogene“, erklärte der „NG“ Igor Jefremow, wissenschaftlicher Mitarbeiter des internationalen Labors für Demografie und menschliches Kapital am Gaidar-Institut.

Zu objektiven Daten werden lediglich die Publikationen der Einwanderungsstatistik der aufnehmenden Länder darüber, wie viele Bürger der Russischen Föderation einen offiziellen Status erhalten haben, der erlaubt, mindestens ein ganzes Jahr lang im Land zu leben. Solche Angaben werden beginnend ab dem nächsten Jahr veröffentlicht werden, wobei die Methodik zur Bestimmung des Einwanderungsstatus in jedem Land eine eigene ist. Daher werde es schwierig werden, sie zu vergleichen, erläuterte der Experte.

„Dennoch kann ich eine ungefähre Vermutung anstellen, wobei ich mich auf die Dynamik solcher Parameter und auf deren Vergleich mit der Rückkehrstatistik (in den jenen seltenen Fällen, in denen die Grenzdienste einzelner Länder solche Angaben machen) stütze, wonach aufgrund der Teilmobilmachung aus Russland – das heißt außerplanmäßig – bis zum heutigen Zeitpunkt 250.000 bis 350.000 Menschen inkl. Familienangehörige, die bei keinerlei Entwicklung der Ereignisse unter die Mobilmachung fallen, ausgereist sind“, sagte Jefremow. Entsprechend seiner Vermutung werde ein erheblicher Teil dieser Menschen bis zum Januar 2023 nach Russland zurückkehren.

„Dabei widersprechen die Schlussfolgerungen der Befragung der Unternehmen, wonach 76 Prozent von ihnen mit einer Ausreise von Mitarbeitern konfrontiert wurden, nicht den angenommenen Dimensionen der Ausreise, besonders unter Berücksichtigung dessen, dass die Befragung auf eine starke Konzentration solcher Verluste der Arbeitgeber in einem kleinen Bereich, den man vorrangig zu den IT rechnen kann, hingewiesen hat“, präzisierte Jefremow. Zumal in diesem Bereich die Männer unter den Beschäftigten dominieren. Und der Charakter der Arbeit und die Höhe der Gehälter erlauben den Mitarbeitern oft, Ressourcen und Möglichkeiten für einen Umzug zu haben.

Jefremow warnte aber: Die rasante Ausreise selbst mehrerer Hunderttausender Bürger Russlands im arbeitsfähigen Alter wird zu einem spürbaren Schlag für den Arbeitsmarkt, der ohnehin auch aufgrund der Verringerung der Anzahl der jungen Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der Altersstruktur der Bevölkerung und der geringen Geburtenrate leidet. Und ab diesem Jahr wird er noch auch bestimmte zusätzliche Verluste einstecken müssen.

Post Scriptum

Laut jüngsten Angaben führen die Leichtindustrie, der Maschinenbau und die Landwirtschaft Russlands hinsichtlich des Mangels an Fachleuten. Offizielle Zahlen weisen in diesen drei Bereichen einen Mangel von bis zu 30 Prozent aus. Und am Montag erklärte Gesundheitsminister Michail Muraschko, dass in Russland etwa 20.000 Ärzte fehlen würden.