Vor einem Monat, am 24. Juni, endete die Meuterei Prigoschins. Ausgelöst hatte sie einen Sturm von Emotionen, Urteilen, analytischen Beiträgen und Spekulationen. Im Großen und Ganzen hatte es überhaupt keine objektiven Informationen gegeben, die von den Experten persönlich eingeholt worden waren. Keiner hatte nichts weder über die wahren Ziele des Aufstands noch über den Kreis der Personen, die hinter ihm (dem Aufstand) standen, gewusst.
Zuerst wurde der wortreiche Präsident Weißrusslands Alexander Lukaschenko zum Newsmaker. Jedoch hatte die Vielzahl von Worten, die keine spezifische Exaktheit in den Details aufgewiesen hatten, keine Klarheit in das Bild der Ereignisse gebracht. Wenige Wochen später informierte das Pariser Blatt „Libération“, das man als einem der französischen Aufklärung nahestehendes ansieht, über ein Treffen von Wladimir Putin mit „Wagner“-Vertretern am 29. Juni im Kreml. Schneller als gewöhnlich bestätigte der Pressesekretär des Staatsoberhauptes, Dmitrij Peskow, die Tatsache der Begegnung. Aber wer dort konkret gewesen war (mit Ausnahme von Prigoschin – Anmerkung der Redaktion) und über was konkret gesprochen worden war, wurde nicht erwähnt.
Danach berichtete Andrej Kolesnikow aus der Moskauer Business-Zeitung „Kommersant“ über seinen kurzen, aber inhaltsreichen Dialog mit dem Präsidenten zum Thema des Empfangs der Rebellen im Kreml. Putin „hatte den „Wagner“-Kommandeuren, von denen 35 Männer bei dem Treffen gewesen waren („Nun da, Sie sind im Kreml“, hatte er ihnen gesagt), mehrere Varianten für eine weitere Arbeit vorgeschlagen, darunter unter der Führung ihres unmittelbaren Kommandeurs mit dem Tarnnamen „Sedoi“ (deutsch: Der Grauhaarige“). Das heißt des Mannes, unter denen Führung die „Wagner“-Kämpfer die letzten 16 Monate gedient hatten.
„- Sie alle konnten an einem Ort zusammenkommen und weiterhin dienen“, sagte Putin dem „Kommersant“-Korrespondenten. „Und für sie hätte sich nichts verändert. Sie hätte der gleiche Mann angeführt, der all diese Zeit ihr realer Kommandeur gewesen war.
— Und was weiter?“, interessierte sich Kolesnikow.
„- Viele nickten, als ich dies sagte“, fuhr Putin fort. „Prigoschin aber, der vorne saß und dies nicht gesehen hatte, sagte, nachdem er sich dies angehört hatte: „Nein, die Jungs sind mit solch einer Lösung nicht einverstanden“.
Wahrscheinlich werden die „Wagner“-Kommandeure von jenen, die genickt und persönlich gegenüber Putin loyal eingestellt waren, mit ihren Unterstellten in die Russische Garde und nicht zum Verteidigungsministerium übergehen. Was logisch ist. Derzeit besitzt die Institution von Viktor Solotow (Chef der Russischen Garde – Anmerkung der Redaktion) die schlagkräftigsten Militärs mit einer Spezialausbildung in Russland: eigene Einheiten, die tschetschenische Formation „Achmat“ und nun ein Teil der Söldnerfirma „Wagner“. Nicht umsonst genießt Solotow den Ruf des treuesten Militärs des Präsidenten.
Die Aktion der „Wagner“-Männer hatte die ganze Welt erörtert. Die vom Kreml exakt dosierten Informationen wurden so zeitgemäß publiziert, dass sie jeden Staats- und Regierungschef in der Welt erreichten, die sich für die Ereignisse in Russland interessieren. Aufmerksamkeit hatte das erregt, dass von niemandem andere Informationen über die Meuterei verbreitet wurden. Denn an dem Konflikt hatten doch tausende Menschen teilgenommen – sowohl seitens der Meuterer als auch seitens der Offiziellen.
Ein derartiger solider Schutz von Informationen innerhalb der Community der in den Prozess involvierten Personen ist ein besonderer Wesenszug der gegenwärtigen Machtsystems. Schon über 20 Jahre plaudert keiner aus dem Nähkästchen und wäscht in der Öffentlichkeit schmutzige Wäsche. Die Gesellschaft erfährt lediglich Informationen, die von oben preisgegeben wird. Für die Herrschenden ist dies bequem, da so die Notwendigkeit prinzipieller Bewertungen für das Geschehen aus dem Weg geräumt wird. Die Ereignisse kann man x-beliebig auslegen, in Abhängigkeit von…
Einen Monat nach der Meuterei ist offensichtlich, dass Prigoschin dank einflussreicher Kontakte in den obersten Machtriegen mit heiler Haut davongekommen ist. Wahrscheinlich waren gerade diese Kontakte, diese Personen mit Verteidigungsminister Sergej und dem Generalstabschef Valerij Gerassimow unzufrieden und bleiben es. Allem nach zu urteilen, haben sie Prigoschin für eine beispiellose Attacke auf zwei Schlüsselfiguren unter den Spitzenvertretern der Streitkräfte Russlands ausgenutzt.
Heute scheint es wahrscheinlich einigen in Moskau, dass die ukrainische Gegenoffensive die Schwäche der ukrainischen Armee offenbart habe. Und folglich stehe ein Sieg bevor.
Wer aber wird dann – einmal angenommen – der „Marschall des Sieges“ werden, der 1945 Georgij Schukow gewesen war? Im öffentlichen Bewusstsein wird der Hauptheld des Sieges auch über eine maximale Legitimität im Kampf um das Amts des Nachfolgers von Putin, wann immer er auch gebraucht werden mag – im Jahr 2024 oder später -, verfügen.
Man kann die Auffassung vertreten, dass Prigoschin neben den eigenen kommerziellen Interessen für die Interessen von irgendwem in einer anderen zeitlichen Perspektive kämpfte. Wenn man Schoigu und Gerassimow absetzt, werden uns die an ihre Stelle getretenen Personen auch die Einfluss-Gruppe ausweisen, die durch den Prigoschin-Aufstand gewonnen hat. Und die sich anschickt, in der Zukunft zu gewinnen…
Aber was wird nun mit Prigoschin? Allem nach zu urteilen, hat er vom Kreml das Recht auf Afrika erhalten. Die Sache ist eine vorteilhafte. Edelmetalle, Erdöl, Gas, Clan-Konflikte, drei bis vier Milliarden Dollar Einnahmen. Business ist halt Business. Es ist nicht schlechter und nicht besser als bei anderen.
Freilich, Prigoschin hatte, als er sich jüngst an seine Kämpfer wandte, aus irgendeinem Grunde versprochen zurückzukehren, „nachdem er jenen Moment abgewartet hat, an dem wir uns voll und ganz demonstrieren werden können“.